Jörg Hofmann: Tarifbindung erhöhen
Eine Frage der Gerechtigkeit

Jörg Hofmann nennt die Tarifbindung die Gerechtigkeitsfrage Nummer eins. Der Erfolg gewerkschaftlicher Arbeit hängt für den IG Metall-Vorsitzenden auch davon ab, wie viele Menschen sie mit ihren Tarifverträgen erreicht. Zurzeit rund 20 Prozent weniger als noch Anfang der 90er-Jahre.

22. August 201622. 8. 2016


Für die Beschäftigten des VDE Prüf- und Zertifizierungsinstituts in Offenbach war es wie die Vertreibung aus dem Paradies: 35-Stunden-Woche, Weihnachts- und Urlaubsgeld – von einem Tag auf den anderen stand alles auf der Kippe. Das Institut, das die Sicherheit elektronischer Artikel prüft, hatte sich immer am Tarifvertrag der Metall- und Elektroindustrie orientiert. Nur tarifgebunden war es nie. 2015 kündigte VDE alle Betriebsvereinbarungen und plötzlich war nichts mehr sicher.

Nadine Stenger, die im Kundenservice bei VDE arbeitet, und ihre Kollegen hatten sich früher nie Gedanken über einen Tarifvertrag gemacht. Sie bekamen jede Tariferhöhung und auch sonst vieles, was der Tarifvertrag regelt. Bis das alles wegfallen sollte. „Da sind die Leute aufgewacht“, sagt die 33-jährige Industriefachwirtin. „Da wurde jedem klar, dass das alles nicht selbstverständlich ist.“


Nicht selbstverständlich

Tariferhöhungen und andere Vorteile von Tarifverträgen sind für immer weniger Beschäftigte selbstverständlich. Von Mitte der 90er bis Mitte der 2000er-Jahre nahm die Zahl der tarifgebundenen Betriebe kontinuierlich ab. Im Vergleich zu 1990 arbeiten heute 20 Prozent weniger Beschäftigte mit einem Tarifvertrag. Der Niedergang ist gestoppt, die Anzahl der Betriebe mit einem Tarifvertrag hält sich seit einigen Jahren bei etwa 50 Prozent. In der Metall- und Elektroindustrie fielen im vergangenen Jahr 54 Prozent der Beschäftigten unter einen Flächen- und weitere 5 Prozent unter einen Haustarifvertrag. Zwar orientiert sich laut Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung etwa die Hälfte der nicht tarifgebundenen Unternehmen wie der Betrieb von Nadine Stenger am Tarifvertrag. Die meisten richten sich allerdings nur beim Lohn danach.

Vereinbarungen zu Arbeitszeit, Altersteilzeit oder mehr Mutterschutz fallen oft genauso unter den Tisch wie Ansprüche auf Qualifizierung und Weiterbildung. Unterm Strich entgeht Beschäftigten ohne Tarifvertrag eine Menge. Sie arbeiten oft länger und bekommen für die gleiche Arbeit meist weniger Geld. So verdiente ein Facharbeiter 2010 in den Industriebranchen der IG Metall ohne Tarifvertrag im Schnitt 18 Prozent weniger als sein Kollege in einem tarifgebundenen Betrieb, ein Beschäftigter in der Montage sogar 28 Prozent weniger.

Auch zwischen Frauen und Männern schaffen Tarifverträge mehr Gerechtigkeit. Zwar verdienen sie auch in tarifgebundenen Betrieben weniger als ihre Kollegen – im Schnitt 3,7 Prozent. In nicht tarifgebundenen ist die Lücke allerdings deutlich größer, nämlich 14,2 Prozent.

 

Quelle: Statistisches Bundesamt, Verdienststrukturerhebung, 2010, Vollzeitarbeitskräfte

 

Tarifbindung wieder erhöhen

Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, hatte bereits auf dem Gewerkschaftstag 2015 angekündigt, wieder mehr Beschäftigte in den Tarifvertrag zu holen. Begonnen hat die IG Metall damit in der Tarifrunde für die Metall- und Elektroindustrie in diesem Frühjahr. Sie hat die Tarifbewegung dabei auch auf nichttarifgebundene Betriebe ausgeweitet.

Für Jörg Hofmann misst sich der Erfolg gewerkschaftlicher Arbeit auch daran, wie wirksam Tarifverträge sind. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit – Voraussetzung ist und bleibt die Tarifbindung. Sie ist die Gerechtigkeitsfrage Nummer eins“, sagte Hofmann auf dem Gewerkschaftstag in Frankfurt am Main. Ohne Tarifvertrag driften nicht nur die Einkommen zwischen verschiedenen Unternehmen auseinander. Auch innerhalb eines Betriebs werden die Unterschiede größer, wenn Beschäftigte nach Gutdünken des Arbeitgebers und nicht nach transparenten und nachvollziehbaren Regeln bezahlt werden. Tarifbindung schafft aber nicht nur mehr Lohngerechtigkeit. Sie stärkt auch die Rolle der Tarifvertragsparteien auf politischer Ebene.

Nachdem sich die Tarifbindung in den vergangenen Jahren stabilisiert hat, sieht Jörg Hofmann gute Chancen, den Trend umzudrehen. Da Fachkräfte in einigen Regionen und Branchen knapper werden, sehen inzwischen auch Arbeitgeber, die sich lange nicht an Flächentarifverträge binden wollten, die Vorteile im Wettbewerb um begehrte Fachleute auf dem Arbeitsmarkt. So stieg die Tarifbindung im Handwerk zuletzt auch in Branchen, die lange Zeit tarifpolitisch brachlagen.

Auf die Einsicht der Arbeitgeber will sich die IG Metall allerdings nicht verlassen, sondern vielmehr auf die eigene Stärke. Sie hängt von der Zahl der Mitglieder ab, die seit einigen Jahren wieder steigt. Die IG Metall will Beschäftigte in Betrieben ohne Tarifvertrag informieren, was ihnen der Tarifvertrag bringt, wie sie ihn bekommen und was sie selbst dafür tun müssen. Der erste Schritt ist immer: sich in der IG Metall zu organisieren.


Tarifbindung geschafft

Das war auch den Beschäftigten bei VDE in Offenbach schnell klar. Nachdem der Arbeitgeber angekündigt hatte, alle Vereinbarungen zu streichen, traten sie reihenweise in die IG Metall ein. Sie gründeten eine Tarifkommission, um mit dem Arbeitgeber über einen Tarifvertrag zu verhandeln. Luis Sergio von der IG Metall Offenbach unterstützte sie dabei. „Das Ziel war ein Anerkennungstarifvertrag“, sagt Sergio. Das Ergebnis: Der Arbeitgeber trat in den Arbeitgeberverband ein und ist seit 1. Januar tarifgebunden.

Die Beschäftigten bekamen nicht alle tariflichen Regelungen, sie mussten auch Zugeständnisse machen, unter anderem bei der Altersvorsorge und der Altersteilzeit. Aber das war es wert, findet Nadine Stenger: „Wir wollten nicht mehr vom guten Willen des Arbeitgebers abhängen. Der Tarifvertrag gibt uns Sicherheit. “Die Industriefachwirtin fühlt sich mit Tarifvertrag einfach besser. Für sie heißt das, sie kann sich auf das Geld verlassen, mit dem Urlaub und dem Weihnachtsgeld planen. „Wir sind jetzt tarifgebunden und darauf sind wir stolz.“

Tarif

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