Interview mit Leiharbeiter Andre Accardi
Leiharbeit zum Hungerlohn und unter Lebensgefahr

Bei mehr als 20 Leihfirmen hat der 28jährige Metaller Andre Accardi bereits gearbeitet. Im Interview erzählt er, was er dort erlebt hat: schlechte und lebensgefährliche Arbeit, miese Bezahlung und Behandlung, Angst unter den Leiharbeitern – und immer wieder die Kündigung.

11. Juli 201911. 7. 2019


André, Du bist 28 Jahre alt und hast bereits bei mehr als 20 Leihfirmen gearbeitet. Warum so viele?

André Accardi: Ich habe immer mein Bestes gegeben. Doch meistens endete das Arbeitsverhältnis mit der Leihfirma mit dem Einsatz beim Kundenbetrieb. Dann hieß es einfach: Tschüss. Wir brauchen Dich nicht mehr. In der Kündigung steht dann meistens so was wie „Sie sind nicht mehr zumutbar“. Erst wenn Du zwei, drei Monate Einsatz bei einem Kunden hattest, hast Du für die Leihfirma genug Profit erwirtschaftet, dass sie sich um einen weiteren Einsatz für Dich bemühen. In der Regel jedoch bekomme ich die Kündigung, wenn der Einsatz endet.


Wie endete Dein Arbeitsverhältnis bei Deiner letzten Leihfirma?

Immerhin erst beim zweiten Einsatz. Ich bin um fünf Uhr aufgestanden, anderthalb Stunden gefahren – und wurde wieder weggeschickt, weil die Arbeitszeiten nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln machbar waren. Die Leihfirma wollte mich dann am selben Tag noch in einen anderen Betrieb zur Nachtschicht schicken. Ich habe gesagt: Wie soll ich da noch völlig übermüdet die ganze Nacht arbeiten? Das war’s dann, nachdem ich beim ersten Einsatz kurz vorher Reißaus vor den unzumutbaren und lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen genommen hatte.


Was war unzumutbar bei dem Einsatz?

Das ging schon mal damit los, dass sie mir samstags mitgeteilt haben, dass ich am nächsten Tag, also am Sonntag, nach Weimar sollte, 250 Kilometer weit weg, mit Regionalzügen. Dabei bin ich am Samstag gerade umgezogen. Das hat die Leihfirma nicht interessiert. Ich bin dann am Sonntag mit zwei Kollegen nach Weimar gefahren. Dort waren aber nur zwei Zimmer in einer Pension für uns gebucht. Am Montagmorgen sind wir dann zum Kundenbetrieb. Erst dort haben wir erfahren, was wir arbeiten sollten: nachts Leitplanken von einem LKW abladen. Nichts davon war vorher abgesprochen. Und die Leihfirma hat einfach nicht gecheckt, ob wir überhaupt für diese gefährliche Arbeit geeignet sind. Der eine Kollege ist gehbehindert, den haben wir nach Hause geschickt. Der andere hat Höhenangst. Und die Arbeit selbst war ein regelrechtes Selbstmordkommando.


Selbstmordkommando? Warum das?

Erst mal waren wir seit sieben Uhr morgens wach, weil wir damit gerechnet haben, tagsüber zu arbeiten. Und dann sollten wir von 16 Uhr bis 5:30 Uhr am nächsten Morgen arbeiten. Die Sicherheitslage am LKW war dann schlicht katastrophal: Wir mussten nachts ohne Licht und ohne Absicherungsgurte auf dem LKW in vier Metern Höhe auf den Leitplanken herumklettern. Die Leitplanken wogen rund 400 Kilo, die wir an einen Kran hängten und die dann in der Dunkelheit über unseren Köpfen herumschwebten. Da nutzt Dir auch kein Helm etwas, wenn Du getroffen wirst. Dann kamen auch noch zwei weitere, völlig unerfahrene Helfer ohne Helm dazu. Ein Wunder, dass da nichts passiert ist.


Was habt Ihr dagegen gemacht?

Ich habe meinen Kollegen nach dem Aufstehen am nächsten Tag gefragt, wie es ihm geht. Er sagte: Eine zweite Nacht werde ich nicht überstehen. Ich habe dann entschieden: Wir packen unsere Sachen und hauen ab.


Ihr seid einfach abgehauen? Und da gab es keine Kündigung?

Nein, erst mal nur eine Abmahnung. Ich habe bei der Leihfirma schon öfter zuverlässig meine Leistung gebracht. Und ich habe dem Disponenten der Leihfirma klargemacht, dass er uns vorher richtig hätte informieren müssen. Wir hatten gar keine Infos, schon gar nicht zu den Gefahren. Das ist eigentlich in 80 Prozent der Einsätze so. Du unterschreibst pro forma eine Sicherheitsunterweisung, in der die zu erwartenden Gefährdungen aufgelistet sind. Und vor Ort ist es tatsächlich alles ganz anders.


War das ein besonders schlimmer Einsatz?

Ich hatte schon schlimmere. Einmal habe ich für eine Elektrofirma in einem Metallindustriebetrieb in Lohr am Main gearbeitet. Wir haben da die Elektronik für die neue Heizung gemacht. Drei Stockwerke sind wir auf Leitern hochgeklettert, die auf öligem, rutschigem Boden standen. Oben sind wir dann auf Gittern gelaufen, in denen die Löcher von den alten Leitungen einfach mit Pappe abgedeckt waren. Ich bin in eine solche Falle reingetreten und bis zur Hüfte durchgerutscht. Wäre ich da nicht hängengeblieben, wäre ich in den Tod gestürzt. Ich habe aber trotzdem mit Schmerzen weitergearbeitet. Nach zwei Monaten Erwerbslosigkeit brauchte ich das Geld.


Hättest Du Dich nicht einfach krank melden können?

Krank macht kaum ein Leiharbeiter. Die meisten nehmen aus Angst um den Job dann lieber Urlaub. Das ist Standard, auch bei mir.


Bei Krankheit Urlaub nehmen – bleibt da überhaupt Urlaub zur Erholung übrig?

Eher weniger. Zumal ich mir immer Urlaub aufspare, um Einsätze zu strecken. Dadurch kann ich die Entlassung hinauszögern und habe so eher Chancen, einen weiteren Einsatz bei der Leihfirma zu bekommen.


Warum bekommst Du eigentlich keinen vernünftigen Job, bei der derzeitigen Arbeitsmarktlage?

Ich habe eine Lese-Rechtschreib-Schwäche. Damit findest Du keine Ausbildung – und ohne Ausbildung auch keinen guten Job.


Die meisten Leiharbeiter trauen sich nicht, öffentlich zu reden. Warum traust Du Dich?

Ich bin ja kein Einzelfall. Im Vergleich zu anderen Leiharbeitern ist das, was mir passiert ist, noch harmlos. Leiharbeit heißt oft Arbeiten zum Hungerlohn und unter Lebensgefahr. Anfang des Jahres habe ich deshalb auch einen Leiharbeiter-Stammtisch bei der IG Metall Erlangen mitbegründet, wo sich Leiharbeiter austauschen und Hilfe bekommen. Wir müssen endlich Gesicht zeigen und die unhaltbaren Zustände in der Leiharbeit öffentlich machen.

Leiharbeit & Werkverträge
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Industrieunternehmen gliedern immer mehr Arbeit aus, in Leiharbeit – oder an Industrienahe Dienstleister. Die Beschäftigten haben meist schlechtere Löhne und Arbeitsbedingungen als die Stammbeschäftigten. Wir wollen gute Arbeitsbedingungen auf dem Werksgelände durchsetzen – mit unserer Kampagne „Gute Arbeit für alle“.

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