„Wenn wir so weitermachen, erleben wir die vollständige Erosion des Industriestandortes Deutschland“, mahnt Jürgen Kerner. Die Zahlen, auf die der Zweite Vorsitzende der IG Metall anspielt, sind dramatisch: Innerhalb der letzten zwölf Monate hat die Industrie 114.000 Arbeitsplätze abgebaut. 260.000 Arbeitsplätze sind seit 2019 allein in der Metall- und Elektroindustrie verloren gegangen. Und der Abbau reißt nicht ab, große deutsche Traditionsunternehmen wie Bosch, VW und Thyssenkrupp überbieten sich aktuell mit Stellenabbauplänen für die kommenden Monate und Jahre. Das sind schlechte Nachrichten für die gesamte Volkswirtschaft. Mit dem Verlust von Industriearbeitsplätzen, verliert Deutschland Wohlstand, der hängt in Deutschland stark an der Industrie: Ein Viertel der Wertschöpfung stammt in der Bundesrepublik aus der Industrie.
Local Content ist Antwort auf unfairen Wettbewerb
Die Ursache der Krise ist schnell ausgemacht. Deutschland wird zerrieben zwischen den USA, die sich mit Zöllen von auch deutschen Exporten abschotten, und China, das den Weltmarkt mit seinen staatlichen subventionierten Exportgütern wie Stahl oder Elektroautos zu Dumpingpreisen flutet. Die IG Metall fordert daher einen neuen Realismus in Fragen der Industrie- und Handelspolitik. Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, betont: „Local Content ist die logische Antwort auf eine Welt, in der Zölle, Subventionen und unfaire Handelspraktiken längst den Alltag bestimmen. Wer es ernst meint mit dem Anliegen, Resilienz zu stärken, kritische Technologien zu schützen und Abhängigkeiten zu verringern, der kommt an Local Content nicht vorbei.“
Kerner warnt vor den Folgen, sollte eine entsprechende Regelung ausbleiben: „Dann finanzieren wir den Umbau unserer Industrien, den Hochlauf der Elektromobilität und die Energiewende – und am Ende kaufen wir Schlüsselkomponenten aus Übersee ein, machen uns abhängig, legen kritische Infrastrukturen offen, während unserer Werkshallen leer bleiben.“
Was genau sind Local-Content-Vorschriften?
Wenn Deutschland und Europa Local-Content-Regeln einführen, heißt das zum einen, dass Unternehmen, die über staatliche Förderung oder in Form von öffentlichen Aufträgen Geld bekommen, wie es zum Beispiel häufig bei Betrieben aus der Luft- und Raumfahrtindustrie sowie der Medizin- und Wehrtechnik der Fall ist, zu einem bestimmten Teil auch hier produzieren müssen. Das würde die IG Metall befürworten. Konkret fordert die Gewerkschaft, dass die Politik bei staatlichen Förderprogrammen, öffentlicher Vergabe und Beschaffung verbindliche Quoten festsetzt, die sicherstellen, dass ein bestimmter Teil der Wertschöpfung in Deutschland und Europa stattfindet. Für die IG Metall ist klar: Öffentliche Mittel sollen nicht ohne Bedingungen ausgeschüttet werden.
Zum anderen heißt es, dass auch Unternehmen, die keine öffentlichen Gelder bekommen, ebenfalls zur Wertschöpfung hier beitragen sollen, wenn sie ihre Produkte in Europa absetzen. Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, betont: „Marktzugang gibt es nicht zum Nulltarif. Niemand redet von 100 Prozent Local Content, aber wenn es Null Prozent sind, läuft was schief. Wer auf unsere Märkte will, muss auch hier investieren – in Standorte, Arbeitsplätze und Wertschöpfung.“
Die Einführung von Local-Content-Regeln würde so Arbeitsplätze sichern und Abhängigkeiten verringern, denn sie würden dafür sorgen, dass Industrien und industrielle Fähigkeiten erhalten bleiben. Bei Local Content geht es um gute Arbeit, aber auch um Resilienz, also darum, Abhängigkeiten und Erpressbarkeit, zu reduzieren.
Local Content sichert heimische Produktion
Wer in den USA Produkte verkaufen will, soll sie auch in den USA produzieren, das ist die Maßgabe des US-Präsidenten Donald Trump. Mit hohen Zöllen versucht er dieses Vorhaben durchzusetzen und Unternehmen zu zwingen Standorte in den USA auf- und auszubauen. Teils lädt Trump Konzernchefs ins Weiße Haus ein und fragt sie wie Schulkinder ab, wie viel sie in neue Fabriken und Werke investieren werden. Die USA sind kein Einzelfall, viele Länder erwarten ein Produktionsengagement vor Ort. Zudem erlassen viele Staaten immer wieder Vorschriften, die eine lokale Fertigung fördern oder gar erzwingen sollen. Dazu zählen hohe Zölle, nichttarifäre Handelshemmnisse und eine behördlich vorgegebene hohe Wertschöpfung vor Ort. Nur Deutschland und Europa glauben bislang an einen freien und fairen Wettbewerb, den es aber schon lange nicht mehr gibt. So kann es geschehen, dass von den 500 Milliarden Euro, die Deutschland als Sondervermögen in Infrastruktur wie Bahnstrecken und Brücken investieren will, wenig in heimischen Auftragsbüchern landet. Nicht mal bei Stahl, obwohl der für viele Vorhaben benötigt wird.
Stephan Ahr, Konzernbetriebsratsvorsitzender von Saarstahl, ist jedenfalls skeptisch: „Beim Infrastrukturprogramm ist die Frage: Kaufen sie den Stahl bei uns oder kaufen sie Billigstahl aus China? Ich finde, wir sollten unsere Steuergelder für unsere Produkte ausgeben.“ China hat mit massiven staatlichen Förderungen Überkapazitäten bei Stahl erzeugt, weshalb nun chinesischer Stahl zu Dumpingpreisen nach Europa drängen, vermehrt auch deswegen, weil die USA sich gegen diesen Stahl mit Zöllen schützen. Während es für Stahl handelspolitische Maßnahmen der EU geben muss, um diese Billigimporte einzudämmen, braucht es nach Überzeugung der IG Metall zudem verbindliche Local-Content-Regelungen als eine Schlüsselantwort auf die neue geoökonomische Realität.
Steuergelder wirtschaftlich einsetzen
Bei öffentlichen Aufträgen geht es um Steuergelder. Werden Brücken und Schienen gebaut oder Straßen- und U-Bahnen von den öffentlichen Verkehrsbetrieben angeschafft, muss verantwortungsvoll mit dem Geld umgegangen werden. Der erste Reflex bei öffentlichen Ausschreibungen ist häufig, das billigste Angebot zu nehmen, das schont die öffentlichen Kassen und damit die Geldbeutel der Steuerzahler, so die Idee dahinter. Doch diese Rechnung vernachlässigt einen entscheidenden Faktor: Steuergelder sollten dort eingesetzt werden, wo sie den größten Nutzen erzeugen, also dort, wo sie am wirtschaftlichsten sind. Am wirtschaftlichsten ist es, wenn das Geld im Land bleibt und so die Binnennachfrage ankurbelt.
Ein Beispiel: Der Schienenfahrzeughersteller Stadler baut in Berlin-Pankow Straßenbahnen, U-Bahnen und Regios. Gekauft werden diese von öffentlichen Verkehrsbetrieben wie der Kölner Verkehrsbetriebe AG (KVB) oder den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG). Das Geld dafür kommt aus Steuern, auch aus den Steuern, die die Beschäftigten zum Beispiel von Stadler entrichten. Würden die Verkehrsbetriebe in Zukunft in China ihre Bahnen kaufen, bekäme Stadler diese Aufträge nicht mehr, würde Stellen abbauen, die Beschäftigten wären arbeitslos und würden keine Steuern mehr zahlen. Ohne ihre Steuern wäre dann weniger Geld für Züge da. Dieser Teufelskreis lässt sich durchbrechen durch Local-Content-Regelungen bei öffentlichen Ausschreibungen.
Local Content sichert Flexibilität und Qualität
Flexibilität und Qualität sind zwei Gründe, warum einige Unternehmen zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen fast ausschließlich auf Zulieferer aus Deutschland und Europa setzen und das auch heute schon, wo es noch keine Local-Content-Regelungen gibt. Auch hier ist der Schienenfahrzeughersteller Stadler in Berlin-Pankow ein Beispiel. Für ihre Straßenbahnen, U-Bahnen und Regios werben sie mit „herausragender Flexibilität und Modularität“. „Geht nicht gibt’s nicht“, lautet das Stadler-Motto. Was das heißt, erklärt Betriebsratsvorsitzender Markus Gierloff so: „Die einen wollen mehr Sitzplätze, die anderen mehr Platz für Fahrräder. Wir erfüllen alle Kundenwünsche und oft entstehen neue Wünsche, wenn wir mit den Kunden durch den halbfertigen Zug gehen.“ Um dann schnell auf diese neuen Wünsche reagieren zu können braucht Stadler die Zulieferer vor der Haustüre. Auf Lieferungen aus China oder Indien warten zu müssen, ist da nicht drin. Zudem ist es die Qualität, die Stadler von heimischen Zulieferern überzeugt. Denn für den Stadler-Betriebsrat ist klar: „Billigprodukte sind störungsanfälliger. Zudem bearbeiten die Beschäftigten viele Zulieferprodukte nach, würden sie Billigprodukte verwenden, müssten sie viel stärker nacharbeiten oder eine Nachbearbeitung wäre gar nicht möglich. Etwaige Kostenvorteile wären somit wieder dahin.“
Local Content sichert die Lieferketten
Corona und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine haben der deutschen Industrie schmerzlich gezeigt, was es bedeutet, wenn Lieferketten brechen. Vorprodukte und Materialien waren plötzlich nicht mehr zu bekommen, viele Betriebe mussten Kurzarbeit anmelden, in einigen Werken stand die Produktion ganz still. Die lahmgelegte Produktion kostete Wachstum und Wohlstand: Allein im Zeitraum von Anfang 2021 bis Mitte 2022 konnte die deutsche Industrie Güter im Wert von knapp 64 Milliarden Euro nicht herstellen, weil Vorprodukte aus dem Ausland fehlten. Das zeigt eine Studie des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.
Die Studienautoren kommen daher zu der Erkenntnis: „Diese Zahlen untermauern den Bedarf, der Resilienz der Lieferketten künftig zulasten der Kosteneffizienz ein höheres Gewicht beizumessen.“ Eine Forderung, die bei der Politik Gehör fand und im Bundestag immer wieder nachhalte, bis sie doch mehr oder weniger verhallte. Vielleicht auch, weil eine Vorstellung fehlte, wie die Resilient, also Widerstandskraft der Wirtschaft und ihrer Lieferketten, politisch zu erreichen sein. Die Lösung sind Local-Content-Regelungen. Denn wenn ein bestimmter Teil aus Deutschland und Europa kommen muss, reduziert das die Lieferwege und die Abhängigkeit. Zerschießt die nächste globale Krise die Lieferketten, würde das den Deutschen Standort weniger hart treffen. Umso weniger, je höher die Local-Content-Quote wäre.
Local Content schützt Technologien
Deutschland gilt als das Land der Erfinder und Ingenieure und ist bei so mancher Technologie weltweit führend. Doch der technologische Vorsprung ist bedroht. Länder wie China oder die USA nehmen sich Technologiefelder heraus und versuchen dort durch staatliche Unterstützung die heimische Industrie an die Weltspitze zu katapultieren. Und es gelingt ihnen: Deutschland war einst führend bei der Entwicklung und Produktion von Solarpanelen, doch China subventionierte ihre Firmen und diese konnten zu geringeren Preisen produzieren. Das löschte die deutsche Solarindustrie fast komplett aus. Heute werden Solarpanelen hauptsächlich in China gefertigt. Ein ähnliches Szenario droht jetzt bei Elektroautos. Das will die IG Metall verhindern und fordert daher Local-Content-Regeln für alle, die auf dem deutschen und europäischen Markt ihre Produkte anbieten wollen.
Besonders gefährlich wird es, wenn ausländische Technologien heimische im Bereich der kritischen Infrastruktur, also im Bereich der Energieversorgung oder der Telekommunikation, zu verdrängen drohen. Beispiel Windkraftanlagen: Rotorblätter werden schon nicht mehr in Deutschland produziert, sollte der Rest auch bald nicht mehr aus heimischer Produktion kommen, sondern beispielsweise aus China, bewerten Sicherheitsexperten dies kritisch. Zum einen könnte es so zu Engpässen bei Ausbau der Energieinfrastruktur kommen, zum anderen könnten Windräder im Krisenfall von China aus abgestellt werden und damit in Deutschland ein Blackout erzielt werden, so eine Befürchtung. Local-Content-Regelungen könnten dafür sorgen, dass kritische Infrastruktur aus Deutschland und Europa käme.