Stahlhersteller wie Thyssenkrupp Steel, Salzgitter Flachstahl, Saarstahl und Arcelor Mittal stehen unter massivem Druck. Hohe Energiekosten, Billigimporte aus Asien und hohe Kosten für die Transformation hin zur klimafreundlichen Stahlproduktion belasten seit Jahren das Geschäft heimischer Produzenten und bedrohen die Existenz der gesamten deutschen Stahlindustrie. Die Frage ist nun: Sterben lassen – oder politisch unterstützen?
Politisch unterstützen, sagen IG Metall und Wissenschaft. Eine aktuelle Studie der Universität Mannheim zeigt die Bedeutung der Branche: „Die Stahlindustrie ist eine zentrale Säule der industriellen Wertschöpfung und der wirtschaftlichen Stabilität in Deutschland“, schreiben die Studienautoren Prof. Dr. Tom Krebs und Dr. Patrick Kaczmarczyk. Sie betonen: „Wirtschaftliche Resilienz für Deutschland und Europa setzt eine starke deutsche Stahlindustrie voraus, die zeitnah und breit auf klimafreundliche Produktion umstellt.“ Daher sei politische Unterstützung der Transformation in der Stahlbranche ökonomisch sinnvoll.
Doch was, wenn die politische Unterstützung nicht kommt und Deutschland seine Stahlindustrie verliert? Dann verliert das Land auch seine Resilienz, also seine Widerstandskraft und Fähigkeit brechende golbale Lieferketten zu bewältigen. Nach Berechnung der Studienautoren könnte das dramatische Folgen haben: 50 Milliarden Euro Wertschöpfung könnte es pro Jahr kosten, sollten die globalen Lieferketten brechen. Ein Szenario, das die IG Metall verhindern will. Sie kämpft einen langen und zähen Kampf für die Industrie und ihre Beschäftigten, der aber langsam Früchte trägt – wie der letzte Stahlgipfel in Berlin zeigte.
Deutsche Industrie braucht Stahl
Die Stahlindustrie ist ein zentraler Pfeiler der industriellen Wertschöpfung in Deutschland und Europa. Es gibt über 2.500 verschiedene Stahlsorten, die sich durch unterschiedliche Eigenschaften auszeichnen wie eine besonders hohe Festigkeit, gute Formbarkeit oder ihre Widerstandsfähigkeit gegen Hitze und Korrosion und die in vielen Bereichen unersetzbar sind, hält die Studie „Grüner Stahl als zentraler Pfeiler einer resilienten Wirtschaft“ der Uni Mannheim fest. Deshalb ist der Werkstoff in der Industrie gefragt: Ein Drittel der Nachfrage kommt aus der Bauindustrie, 28 Prozent aus der Autoindustrie und 13 Prozent aus dem Maschinenbau. Diese Sektoren könnten ohne hochwertigen Stahl nicht bestehen. Und an den Sektoren hängen viele Arbeitsplätze: Rund 4 Millionen Beschäftigte arbeiten in stahlintensiven Branchen, was etwa zwei Drittel aller Industriearbeitsplätze in Deutschland entspricht.
Zudem geht es um viel Geld: Die nationale Stahlproduktion generierte zuletzt etwa 7 Milliarden Euro an direkter Wertschöpfung und ermöglicht indirekt 12,7 Milliarden Euro an Wertschöpfung in nachgelagerten Branchen, wie der Branchenverband Wirtschaftsvereinigung Stahl belegt.
Import kann Produktion nicht ersetzen
„Nur weil die deutsche Industrie Stahl braucht, muss Deutschland diesen Stahl nicht selbst herstellen, sondern sollte ihn billiger im Ausland kaufen“, sagen neoliberale Stimmen. Diese Idee kritisieren die Wirtschaftsforscher der Uni Mannheim, denn sie beruhe „auf der unrealistischen Annahme, dass globale Lieferketten immer reibungslos funktionieren und nahezu perfekter Wettbewerb auf den globalen Märkten vorherrscht“.
Christina Schildmann, Leiterin der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung, die die Studie der Uni Mannheim förderte, zählt Beispiele auf, bei denen das Verlassen auf den Weltmarkt am Ende die deutsche Industrie und den Verbraucher teuer kam: „Antibiotika, bestimmte Chemikalien oder Chips für die Massenfertigung: jahrelang hieß es, solche vermeintlich simplen Produkte brauchen wir nicht mehr selbst herzustellen, die kaufen wir billiger in Übersee. Vielfach stellt sich gerade heraus, dass das ein riesiger Fehler war.“ Schildmann spielt darauf an, dass es am Weltmarkt für diese Produkte immer wieder Versorgungsengpässe gibt und deren Preise daraufhin in die Höhe schnellen. „Diesen Fehler sollten wir beim unverzichtbaren Werkstoff Stahl nicht wiederholen“, folgert Schildmann.
Stahlabhängigkeit kann Problem werden
Die USA erheben Zölle, China beschränkt wie viele Computerchips und Seltene Erden sie exportieren, eine Pandemie und der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine lassen Lieferketten brechen – all das löst ökonomische Schocks aus. Und die Wahrscheinlichkeit dieser Schocks wird zunehmen. Davon gehen die Forscher der Uni Mannheim bei der Betrachtung der aktuellen Geopolitik aus.
Was würde so ein Schock für die Stahlindustrie bedeuten? Ein Gedankenspiel: Die deutschen Unternehmen kaufen ihren Stahl künftig nicht mehr von heimischen Herstellern, sondern nur noch von subventionierten chinesischen Billigproduzenten. Doch diese beschränken aufgrund handelspolitischer Uneinigkeiten die Menge, die sie exportieren. Die Folge wäre ein Stahlschock, der die deutsche Wirtschaft jährlich bis zu 50 Milliarden Euro an Wertschöpfung kosten könnte, haben die Forscher errechnet: „Diese Verluste setzen sich aus zwei Komponenten zusammen: Erstens entsteht ein negativer Angebotseffekt, da Stahl in den nachgelagerten Branchen – insbesondere in der Bauwirtschaft, dem Maschinenbau, der Elektrotechnik und der Automobilindustrie – als Input fehlt oder nur zu erheblich höheren Kosten verfügbar wäre. Zweitens resultiert daraus ein negativer Nachfrageeffekt, weil Einkommensverluste der privaten Haushalte die Güternachfrage verringern würden.“
Arbeitsplatzverlust stärkt rechten Rand
Ohne Stahlindustrie würden in Deutschland viele Arbeitsplätze verloren gehen, besonders in Bremen, Duisburg, Eisenhüttenstadt, dem Saarland und in Salzgitter. „Angesichts historischer Erfahrungen mit industriellen Strukturbrüchen in den USA und Großbritannien sowie der Altersstruktur der Beschäftigten in der Stahlindustrie ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Betroffenen nach dem Arbeitsplatzverlust nicht gleichwertig wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden kann“, so die Wissenschaftler der Uni Mannheim. Hinzu käme, dass auch Beschäftigte in den nachgelagerten Branchen und in anderen Regionen betroffen wären. Dies hätte erhebliche soziale sowie politische Konsequenzen: „Historische Erfahrungen aus den USA und Großbritannien zeigen, dass wirtschaftlicher Niedergang in industriell geprägten Regionen häufig mit einem Erstarken rechtspopulistischer Strömungen einhergeht. Das gilt auch für Deutschland: Eine Politik, die zentrale Industrien aufgibt, schwächt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die demokratische Stabilität“, erläutern die Studienautoren.
Politik muss Stahlindustrie schützen
Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall, kommt beim Blick auf die Stahlindustrie zu dem gleichen Ergebnis wie die Wissenschaft: „Ein Ende der Stahlproduktion in Deutschland würde den Industriestandort insgesamt massiv gefährden – mit schwerwiegenden Folgen für Wirtschaft, Gesellschaft und die politische Stabilität im Land.“ Kerner rät deshalb: „Bund und Länder müssen alles tun, um die Stahlindustrie in Deutschland und Europa zu sichern und zukunftsfähig zu machen.“ Kerner sieht neben der Politik auch die Unternehmen in der Verantwortung.
IG Metall erkämpfte Förderungen
Die IG Metall kämpft für die Zukunft der Stahlindustrie und kann dabei einige Erfolge verbuchen: Die Transformation der Stahlindustrie hin zur klimaneutralen Produktion wird vom Bund und den Bundesländern finanziell unterstützt. Tausende Metallerinnen sind dafür auf die Straße gegangen. Das Ergebnis: Die saarländische Stahlindustrie soll rund 2,6 Milliarden Euro, Thyssenkrupp Steel rund 2 Milliarden Euro und Salzgitter Flachstahl etwa 1 Milliarde für die grüne Stahlproduktion erhalten. Das ist ein guter Anfang, klar ist aber auch, hier muss mehr kommen. Das belegt die Studie der Uni Mannheim. Nach den Berechnungen der Forscher besteht derzeit eine eklatante Lücke im Bereich der bislang geplanten grünen Stahlproduktion. Die Empfehlung der Studienautoren lautet deshalb: „Deutschland muss den Ausbau der Produktionskapazitäten im Bereich des grünen Stahls deutlich beschleunigen und zusätzliche Investitionen anstoßen.“
IG Metall findet in Berlin und Brüssel Gehör
Arcelor Mittal hatte ebenfalls eine Förderung von 1,3 Milliarden Euro für die Transformation der Standorte Bremen und Eisenhüttenstadt zugesichert bekommen, aber die Unternehmenslenker lehnten ab. Die derzeitigen Rahmenbedingungen in Deutschland ermöglichten aus ihrer Sicht kein belastbares und überlebensfähiges Geschäftsmodell, so die Erklärung aus der Arcelor-Chefetage.
Für eine Verbesserung der Rahmenbedingungen kämpft die IG Metall seit langem in Berlin und Brüssel. Nun scheint der Einsatz Früchte zu tragen. Die EU will die heimische Stahlbranche mit Hilfe von Zöllen besser vor subventionierten Billigimporten schützen. Auch die Bundesregierung wird sich in Brüssel dafür einsetzen. „Die deutsche und europäische Stahlindustrie braucht einen wirksamen Handelsschutz“, erklärte Bundeskanzler Friedrich Merz Anfang November beim Stahldialog in Berlin, bei dem die IG Metall diese und weitere Forderungen erneut verdeutlichte.
Industriestrompreis soll kommen
Beim Stahldialog, der inoffiziell Stahlgipfel genannt wird, wiederholte die IG Metall erneut ihre Forderung nach einem wettbewerbsfähigen Industriestrompreis von ca. 5 Cent pro Kilowattstunde inklusive Abgaben und Steuern. Seine Einführung hätte zur Folge, dass Betriebe mit einem hohen Energieverbrauch dann eben nur ca. 5 Cent für eine Kilowattstunde bezahlen müssen und so wieder international wettbewerbsfähig würden. Bundeskanzler Merz sicherte beim Stahldialog zu, dass seine Bundesregierung alle Anstrengungen unternehmen werde, um die Energiepreise zu senken. Auch erklärte Merz, dass er die Aussichten für gut halte, dass die EU einem Industriestrompreis in Deutschland zustimme. Bundeswirtschaftsministerin Katherina Reiche hatte bereits kurz vor dem Stahldialog angekündigt, dass sie ab Januar 2026 einen Industriestrompreis für energieintensive Unternehmen einführen wolle und die Verhandlungen mit der EU-Kommission in den letzten Zügen wären. Das begrüßt Jürgen Kerner, Zweiter Vorsitzender der IG Metall. Insbesondere, dass die Bundesregierung versprochen hat, dass der Industriestrompreis auch mit der Strompreiskompensation kombiniert werden kann. Ein Punkt, der der IG Metall sehr wichtig ist. So spricht Kerner von „einem wichtigen Signal“. Damit es aber nicht nur bei einem Signal bleibt, muss Reiche jetzt dafür sorgen, dass der Industriestrompreis, der am Ende rausspringt, wirklich wettbewerbsfähig ist.
IG Metall kämpft für Local-Content-Regelungen
Für die IG Metall ist klar: Deutschland und Europa brauchen wirksame Local-Content-Vorgaben bei öffentlichen Aufträgen und darüber hinaus. Das heißt, dass die Politik einen lokalen Wertschöpfungsanteil festschreibt. So würde zum Beispiel sichergestellt, dass wenn die Bundesrepublik im Rahmen des Sondervermögens Milliarden in die öffentliche Infrastruktur investiert, das auch bei den heimischen Stahlherstellern ankommt. Jürgen Kerner brachte es schon vor dem Stahldialog auf den Punkt: „Wenn wir deutsche Steuergelder in Einsatz bringen, dann muss wenigstens ein Teil der Produktion in Deutschland stattfinden.“ Auch diesen Punkt unterstützt die Bundesregierung. So erklärte Bundesfinanzminister und Vizekanzler Lars Klingbeil auf dem Stahldialog: „Für unsere Infrastruktur und Verteidigung, in der Autoindustrie und in anderen wichtigen Bereichen wollen wir, dass vorrangig heimischer und europäischer Stahl eingesetzt wird.“ Dazu verdeutlichte er: „Wir kämpfen dafür, dass die Stahlindustrie in Deutschland eine Zukunft hat.“
Worte, die die Beschäftigten der Stahlindustrie, die Metallerinnen und Metaller, gerne hören. Aber Worte, denen auch Taten folgen müssen. Doch ein Gefühl bleibt, das Jürgen Kerner auf der Pressekonferenz des Stahldialogs so beschreibt: „Wir befinden uns mit der Stahlindustrie im Schockraum einer Notaufnahme. Aber nach dem Gespräch mit der Bundesregierung habe ich jetzt das Gefühl, dass der Patient Stahlindustrie da lebend rauskommt.“ Jedoch macht Kerner auch klar: „Wenn die Unternehmen nun neuen Spielraum und Förderung erhalten, dann müssen sie auch Verantwortung für den Standort und die Arbeitsplätze hier übernehmen. Wir erwarten Investitionen in die heimischen Standorte. Werkschließungen müssen vom Tisch sein.“