Digitalisierung und agiles Arbeiten
Wie die Digitalisierung die Arbeit in Büros verändert

Wissenschaftler Andreas Boes spricht darüber, was auf die Beschäftigten zukommt, auf welche Weise agile Arbeit zu mehr Freiheit führen kann – und warum es Zeit ist, einen Gegenentwurf zu den Rationalisierungserzählungen der Unternehmen zu entwickeln.

7. März 20197. 3. 2019


Die Automatisierung der Bürobereiche schreitet voran, Digitalisierung hält breiten Einzug auch in die indirekten Bereiche: Welche Folgen hat das für die Beschäftigten und ihre Arbeitsplätze?

Prof. Dr. Andreas Boes: Diese Frage ist nicht so einfach zu beantworten. Und das liegt daran, dass wir es mit Blick auf die Digitalisierung mit zwei völlig gegenläufigen Entwicklungen und Interpretationen zu tun haben.


Was sind das für Entwicklungen?

Nun, die erste Richtung interpretiert Digitalisierung unter den Vorzeichen der Automatisierung. Sie versteht Digitalisierung als eine Potenzierung der Automatisierung, als eine neue Technik, mit der Unternehmen Rationalisierungspotentiale finden und heben können. Und dies nicht nur in den Werkhallen, sondern mehr und mehr auch in den Büros. Konnte man bislang einfache, monotone Tätigkeiten automatisieren, so ermöglicht Künstliche Intelligenz es nun auch, Entscheidungsprozesse zu automatisieren – selbst auf Management-Ebene. Das ist die eine Seite.

Prof. Dr. Andreas Boes

Prof. Dr. Andreas Boes befasst sich seit mehr als dreißig Jahren mit der Informatisierung der Gesellschaft und der Zukunft der Arbeit.


Was ist die andere, die gegenläufige Entwicklung?

Sie geht von der Prämisse aus, dass Digitalisierung Räume erschafft, in denen eine neue Art von Arbeit möglich wird. Informationen, Datenfluss, digitale Technik: Das alles kann genutzt werden zum Beispiel für intensive Kooperation und Kommunikation, für verstärkte Beteiligungsprozesse oder um den Beschäftigten eine größere Zeitsouveränität zu ermöglichen. So gesehen hat Digitalisierung ein emanzipatorisches Potential, das alternative Formen von Arbeit möglich macht und, nur um ein Beispiel zu nennen, in neuen Bürokonzepten umgesetzt werden kann. In der gesellschaftlichen Diskussion aber wird zumeist nur die erste Variante, also Digitalisierung als verschärfte Automatisierung, diskutiert.


Das mag vielleicht auch daran liegen, dass Digitalisierung in den indirekten Bereichen ja tatsächlich zu einer spürbar verschärften Automatisierungswelle führt: Algorithmen, RPA und KI übernehmen immer mehr monotone, stark repetitive Büroarbeit…

Das ist richtig. In der Produktion ist bereits alles hoch-automatisiert, große Rationalisierungspotentiale gibt es dort kaum noch. Aber man muss auch sehen: Auch in den Büros fallen Rationalisierungen ja nicht vom Himmel. Sie sind heute nur mit der fortschreitenden Digitalisierung in neuer Qualität möglich. Aber es gibt sie seit vielen Jahren: In den 90er Jahren gerieten auch die Büros in den Fokus verstärkter Rationalisierungsbestrebungen. Anfangs waren das Einsparmaßnahmen ohne Konzept dahinter. Unternehmen machten dann beispielsweise die Vorgabe, die Personalkosten pro Jahr um fünf Prozent zu senken. So sparten sie häufig die Kultur in den Büros kaputt. Später dann wurden die Rationalisierungsbestrebungen mit neuen Organisationskonzepten voran getrieben.


Welche waren das?

Erstens wurde mit dem Shared-Service-Konzept die Arbeit immer weiter in kleine Einzelschritte zerlegt, sodass gleichartige Prozesse aus verschiedenen Bereichen zusammengefasst und von einer Stelle aus bearbeitet werden konnten. Im Grunde waren das die Anfänge eines digitalen Fließbandes, das bis heute perfektioniert wurde. Zweitens aber wurden alle Tätigkeiten, die man nicht zerlegen und bündeln konnte, in agile Projektabläufe gepackt. Mit beidem, mit dem digitalen Fließband im Sinne des Shared-Service wie mit agilen Methoden des Arbeitens, haben wir es heute in den Büros zu tun. Allerdings haben wir inzwischen eine neue Dimension erreicht: Die Digitalisierung ist praktisch die letzte Ausbaustufe, auf der strukturelle Rationalisierungen durchgesetzt werden können. Sie wird in den kommenden Jahren bislang unmögliche Rationalisierungspotentiale in den Büros heben. Wenn wir da nicht gegensteuern, besteht die Gefahr, dass die Digitalisierung in den Büros dramatische Folgen für die Beschäftigten und ihre Arbeitsplätze haben wird.


Wie lässt sich effektiv gegensteuern, wie kann man so eine Entwicklung verhindern?

Ich glaube, es ist wichtig und höchste Zeit, einen starken und nachhaltigen Gegenentwurf zu entwickeln zu den Rationalisierungserzählungen der Unternehmen und ihrer Logik der Automatisierung. Meiner Meinung nach müsste man das Engagement für Beschäftigungssicherung pragmatisch angehen und zusammen führen mit der Entwicklung einer positiven Vision, eines starken Bildes davon, wie wir uns das Büro der Zukunft vorstellen.


Welcher könnte das sein?

Ich denke, ein Gegenentwurf könnte sein, das Büro quasi als Keimzelle der Zukunft zu etablieren. Ich glaube, es wäre gut, wenn wir das Büro als Zentrum der Wertschöpfung der modernen Industrie begreifen – und uns klarmachen: Das, was wir in Zukunft brauchen, das sind schlussendlich nicht Daten, die von Maschinen abgeschöpft und von Algorithmen zu Mustern und Korrelationen angeordnet werden. Wir brauchen vielmehr kreative Menschen, die aus Daten Informationen machen – und so neue Geschäftsmodelle entwickeln und Arbeitsprozesse perfektionieren. Kurz: Wir brauchen Beschäftigte, die neue, innovative Ideen haben. Big Data allein ist nicht die Lösung. Big Data allein sieht nur Daten und Muster. Damit ist noch nichts gewonnen.


Welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sind in solch einem Büro gefragt, wie ändern sich Qualifikationsanforderungen für die Beschäftigten?

Klar ist: Einfache, monotone, stark repetitive Tätigkeiten werden bereits heute zunehmend automatisiert. Sie sind und werden immer unwichtiger für die Beschäftigten. Gleichzeitig entstehen aber Freiräume für höherwertige Tätigkeiten. Wenn im Mittelpunkt der zukünftigen Arbeit im Büro die Frage steht, wie es gelingt, aus Daten Informationen zu generieren, dann müssen die Beschäftigten qualifiziert werden, um solche Antworten zu geben. Sie brauchen dann, und in einem viel höheren Maße als heute, vor allem kommunikative Fähigkeiten: Sie müssen teamorientiert, abteilungsübergreifend, vernetzt und kreativ arbeiten können.


Können agile Arbeitsformen, die derzeit in viele Büros einziehen, für Beschäftigte eine hilfreiche Unterstützung sein, indem sie, im besten Fall, eine lernförderliche Umgebung etablieren?

Ich glaube, Agilität ist der Kern und die Basis einer lernförderlichen Arbeit und damit enorm wichtig. Entscheidend ist aber, dass agile Arbeitsformen richtig umgesetzt werden. Also nicht im Sinne eines digitalen Fließbandes, mit kleinen Teams, die zu große Aufgaben in zu kurzer Zeit mit zu geringen Ressourcen stemmen sollen. So geht das nicht. Dreh- und Angelpunkt bei der Frage, ob agiles Arbeiten lernförderlich und gut für die Beschäftigten ist, ist die Frage, ob die einzelnen Teams, die agil arbeiten sollen, empowert sind oder nicht.


Was meint „empowert“ in diesem Zusammenhang?

Agiles Arbeiten zeichnet sich dadurch aus, dass ein Projekt oder ein Produkt in kleinen Schritten, in vielen Sprints entwickelt wird und sich so immer wieder flexibel und schnell an neue Kundenanforderungen anpassen kann. Die Projektteams organisieren sich selbst. Und an der Stelle ist ganz entscheidend: Wie sind diese sich selbst organisierenden Teams ausgestattet? Empowerte Teams können selbst festlegen, wie viele Aufgaben sie pro Sprint erledigen. Sie entscheiden eigenständig darüber, welche Arbeitsmethode sie anwenden, welche Arbeitsteilung sie eingehen, auch, wer von ihnen welche Tätigkeiten übernimmt und erledigt. Sie können darüber hinaus auch wesentlich darüber mitbestimmen, was überhaupt gemacht wird, welches Projekt also angenommen, welches Projekt wie umgesetzt wird. Wenn Teams auf solche Weise zusammenarbeiten, dann kommen sie ins Fliegen. Wenn Beschäftigte in solchen Teams arbeiten, dann ändert sich die Arbeit im Büro grundlegend.


Inwiefern?

Zunächst, ganz pragmatisch, verändert sich die Rolle von Führung – weg von einer kommandierenden hin zu einer koordinierenden Instanz. Es ist eine Instanz, die zwar das gemeinsame Ziel vorgibt, die Mittel und Wege, dorthin zu kommen, allerdings in die Hand der Beschäftigten legt. Die einzelnen Beschäftigten können sich in guten agilen Arbeitsbeziehungen gegenseitig unterstützen und Solidarität entwickeln. Sie können voneinander lernen – auch zwischen den Generationen. Und es wird ihnen möglich, während ihrer Arbeit neues zu lernen, neues zu denken, sich auszuprobieren und Ideen zu entwickeln. Das ist genau das, was im digitalen Büro der Zukunft wichtig ist.

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