Jürgen Kerner im Interview
„Werksschließungen sind für uns eine rote Linie“

Seit die neuen Jobabbaupläne von Siemens bekannt sind, geht bei den Beschäftigten die Angst um. IG Metall-Hauptkassierer und Siemens-Aufsichtsratsmitglied Jürgen Kerner ist verärgert. Im Interview mit der „Augsburger Allgemeinen“ kündigt er Widerstand an.

23. Oktober 201723. 10. 2017


Herr Kerner, bei Siemens geht es wieder einmal drunter und drüber. Aus Unternehmenskreisen heißt es, erneut seien tausende Stellen in Gefahr und Standorte in Ostdeutschland und im Ruhrgebiet könnten geschlossen werden. Wie alarmiert ist die Arbeitnehmerseite?

Jürgen Kerner: Unter den Beschäftigten geht die Angst nach diesen Berichten um. Was mich als Siemens-Aufsichtsrat und IG Metall-Vorstandsmitglied ärgert, ist der Umstand, dass die Mitarbeiter von diesen Plänen wieder einmal aus den Medien erfahren. Dazu kommt: Möglicherweise vor dem Aus oder dem Verkauf stehende Standorte etwa in Görlitz oder Erfurt liegen auch nicht gerade in wirtschaftlich besonders florierende Regionen. Dabei hat Siemens-Chef Joe Kaeser unlängst die Verantwortung der Eliten in Deutschland hervorgehoben. Das passt alles nicht zusammen.


Sind auch Beschäftigte in Bayern von den Abbauplänen betroffen?

Mit uns hat bisher keiner aus dem Unternehmen über diese neuen Umstrukturierungspläne gesprochen. So geht das nicht. Das hat keinen Stil. Aber in den anscheinend betroffenen Siemens-Sparten, also der Kraftwerks- und Antriebstechnik, geht es nach Medienberichten vor allem um ostdeutsche Werke und Standorte im Ruhrgebiet, aber auch in Nürnberg und Erlangen sind Menschen in diesen Bereichen bei Siemens beschäftigt. Meine schwäbische Heimat ist nicht betroffen. Hier gibt es ja auch nicht mehr so viele direkte Siemens-Arbeitsplätze.


Was werden die Siemens-Arbeitnehmervertreter und die IG Metall unternehmen, um die Pläne des Konzerns zu durchkreuzen? 

Eines steht fest: Werksschließungen sind für uns eine rote Linie. Das geht gar nicht. Wenn Siemens die Pläne umsetzen will, werden wir alle Protesthebel in Bewegung setzen. Denn ein so potentes und finanzstarkes Unternehmen wie Siemens müsste schon in der Lage sein, den sich lange abzeichnenden Strukturwandel etwa in der Kraftwerkssparte so zu gestalten, dass die Beschäftigten mitgenommen werden. Schließlich zeichnet sich seit langem ab, dass große Gasturbinen weniger gefragt sind. Wir fordern, Beschäftigte rechtzeitig zu qualifizieren und umzuschulen, so dass sie an anderer Stelle in dem großen Ingenieur- und Technikkonzern Siemens wieder eine Heimat finden. Neue Produkt- und Geschäftsideen können Beschäftigung an betroffenen Standorten sichern.


Was erwarten Sie jetzt von Siemens-Chef Joe Kaser? Gehen Sie in der Sache auf ihn zu?

Wir erwarten, dass man auf die Beschäftigten und uns zukommt und erläutert, warum es neuen Handlungsbedarf geben soll. Denn es gab ja schon in der Vergangenheit Umstrukturierungen. So wurde beschlossen, dass in der Kraftwerkssparte und in der Antriebssparte jeweils über 1 000 Jobs an deutschen Standorten wegfallen. Und jetzt lesen wir, dass Standorte geschlossen werden sollen, obwohl wir in einem Vertrag mit Siemens genau das ausgeschlossen haben.


Sie selbst haben ihre Karriere bei Siemens in Augsburg als Informationselektroniker begonnen. Da schwingen bei Ihnen sicherlich auch Emotionen mit?

Natürlich. Siemens ist für mich eine Herzensangelegenheit. Aber bei dem Thema verspüre ich sozusagen zwei Seelen meiner Brust: Zum einen schätze ich den Konzern, weil er wie kein anderer in Europa eine große Palette an Technologien bietet. Anderseits jagt seit Monaten ein Abbauprogramm das nächste. So entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, Siemens baut nur Stellen ab. Dabei entstehen auch immer wieder neue Arbeitsplätze, wenn auch zu wenig. Was Industrie 4.0 betrifft, also das Zusammenwachsen von Automatisierung und Digitalisierung, steht Siemens weltweit mit an der Spitze. Und der Konzern fördert wichtige Technologieprojekte wie das elektrische Fliegen. Hier kooperiert Siemens ja erfolgreich mit Airbus. Die Partner haben sich einen Vorsprung vor der Konkurrenz erarbeitet.


Soweit die stolze Siemens-Seele in ihrer Brust. Wie sieht es mit der verletzten aus?

Hier leide ich mit den verunsicherten Beschäftigten, die enorm unter Druck stehen. Es kann nicht angehen, dass der Siemens-Vorstand sich von den Mächtigen an den Finanzmärkten treiben lässt und mal wieder vor der Veröffentlichung eines sehr guten Jahresabschlusses Abbaupläne durchsickern lässt. Die Beschäftigten haben ein Recht zu erfahren, wie es mit ihnen weiter geht. Der Vorstand muss jetzt Klartext reden. Es geht nicht an, noch Wochen zu warten, um die Karten auf den Tisch zu legen. Die Unsicherheit im Konzern ist ja generell groß, schließlich stellt sich Siemens in immer mehr Geschäftsbereichen neu auf. Nach dem Zusammenschluss mit Gamesa im Windbereich soll der Börsengang der Medizintechnik folgen. So besteht die Gefahr, dass Siemens irgendwann zu einer reinen Finanzholding wird. Das wäre ein großer Fehler.


Es geht ja auch anders. Bei der Zug-Allianz von Siemens und dem französischen Alstom-Konzern waren die Beschäftigtenvertreter eingebunden.

Genau. Der französische Staat und die IG Metall haben bei dem Bündnis zwischen dem ICE- und dem TGV-Konzern eine vierjährige Beschäftigungs- und Standortgarantie erreicht. Dabei hat die Arbeitnehmerseite Kaesers Plan unterstützt, dass die beiden Mobilitäts-Riesen kooperieren. Denn wir brauchen in Europa auch gegenüber der stärker werdenden asiatischen Konkurrenz einen potenten Mobilitäts-Konzern. Wir werden uns gegenüber der Bundesregierung dafür einsetzen, dass sie die Branche aktiv unterstützt. In Frankreich ist eine an nationalen Arbeitsplatzinteressen ausgerichtete Industriepolitik selbstverständlich. Das sollte auch in Deutschland so sein. Doch unsere Bahn eröffnet ein Einkaufsbüro in China und will dort Züge kaufen.


Apropos China: Wäre es nicht besser gewesen, Siemens hätte den Augsburger Roboterbauer Kuka gekauft? Dann wären die Chinesen nicht zum Zuge gekommen.

Eigentlich wäre es folgerichtig gewesen, wenn Siemens bei Kuka zum Ankeraktionär, also dem bestimmenden Aktionär, geworden wäre. Denn Siemens wie Kuka stehen für Industrie 4.0. Und Siemens hätte die Robotik-Kompetenz aus Augsburg gut getan. 


Das Interview führte Stefan Stahl und ist am 21. Oktober 2017 in der „Augsburger Allgemeine“ erschienen. 

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