Solidarischer Kampf bei Zulieferer Musashi
Wenn Dir Deine Firma 20.000 Euro wegnehmen will

Urlaubs- und Weihnachtsgeld, T-ZUG, Tariferhöhungen weg: 20.000 Euro wollte die Geschäftsführung des Autozulieferers Musashi jedem Beschäftigten wegnehmen - ohne Zusagen, ohne Plan für ihre Zukunft. Doch sie hielten an allen sechs Standorten zusammen - und gingen mit der IG Metall in die Offensive.

29. August 202229. 8. 2022


Januar 2022 beim Autozulieferer Musashi: Sie stehen mit dem Rücken an der Wand.  Auf 20.000 Euro sollen sie in den nächsten drei Jahren verzichten – auf alle Sonderzahlungen, auch auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld, und auf Tariferhöhungen. Diese Forderungen hat ihnen die Arbeitgeberseite auf einer 10-Punkte-„Giftliste“ zugestellt. Zudem droht die Geschäftsführung mit Insolvenz, trotz voller Auftragsbücher.

Die Geschäftsführung will ihr Geld. Zusagen für die Zukunft will sie den Beschäftigten dafür nicht geben. Die Transformation, die Umstellung auf Produkte mit Zukunft, etwa für Elektroautos – die hat das Unternehmen komplett verschlafen. Musashi stellt vor allem Teile für Verbrennerautos her: Nocken, Ringe. Pläne für die Zukunft? Wie auch, wenn die Werkleiter alle zwei, drei Jahre wechseln.

Dabei haben die Beschäftigten schon seit langem Anregungen, wie die Arbeitsorganisation und damit auch die Ertragslage verbessert werden kann, wie die Produkte und das Unternehmen nachhaltiger werden können. Doch ihr Unternehmen hört ihnen nicht zu.
 

Beschäftigte sollen verzichten – ohne Sicherheiten

Musashi Europe ist ein typischer Fall. Viele Autozulieferer stehen vor der Transformation und sind von der aktuellen Krise, Preissteigerungen und Lieferengpässen betroffen. Die Kosten der Krise und der Transformation mit der Abkehr von Verbrennerfahrzeugen sollen die abhängig Beschäftigten zahlen – ohne dass sie dafür Perspektiven und Sicherheiten für ihre Zukunft erhalten.

Bei der Europa-Tochter des japanischen Musashi-Konzerns sind rund 2.000 Beschäftgte betroffen, an sechs Standoren in Rheinland-Pfalz, Thüringen und Niedersachsen: in Bad Sobernheim, Bockenau, Grolsheim und in Leinefelde (IG Metall-Bezirk Mitte), in Lüchow und Hannoversch Münden (IG Metall-Bezirk Niedersachsen-Sachsen-Anhalt).

Sechs Standorte rücken zusammen

In der Vergangenheit haben die Beschäftigten der verschiedenen Standorte nicht immer zusammengehalten. Und die Geschäftsleitung spielte Standorte gegeneinander aus – etwa 2019 Hannoversch Münden in Niedersachsen und Leinefelden in Thüringen. Zudem waren viele Beschäftigte nach einem Sanierungstarifvertrag in der Finanzkrise vor 12 Jahren aus der IG Metall ausgetreten.

Daher gilt es zunächst, sich offen auszusprechen und wieder Vertrauen aufzubauen, in Gesprächen in Versammlungen und im Betrieb. Die Betriebsräte aller Standorte treffen sich im IG Metall-Bildungszentrum Beverungen. Dort weden alle Karten auf den Tisch gelegt, Konflikte bereinigt und eine wichtige Entscheidung getroffen. „Bei uns hat es richtig Klick gemacht in Beverungen“, meint Sascha Wilke, Betriebsrat und Vertrauensmann am Standort in Hannoversch Münden. „Dort haben wir uns in die Augen geschaut und vereinbart, dass wir gemeinsam vorgehen und gemeinsam etwas erreichen.“

An allen Standorten treten immer mehr Beschäftigte in die IG Metall ein, bilden Tarifkommissionen, diskutieren und stimmen in Mitgliederversammlungen über das Vorgehen ab. Das klare Votum: Nein, wir geben nichts. Wir leisten Widerstand und gehen gemeinsam und solidarisch in die Offensive. Sie stellen gemeinsam Forderungen nach einem Sozialtarifvertrag auf. Ihr Ziel: Weg mit der „Giftliste“. Sie wollen einen Tarifvertrag mit Weitblick in die Zukunft. Sie verhandeln gemeinsam – und kämpfen gemeinsam.

 

„Wir sind streikbereit“

Als die Verhandlungen mit dem Arbeitgeber nicht vorankommen, erhöhen Beschäftigte und IG Metall Ende März den Druck – mit gleichzeitigen Warnstreiks von drei bis fünf Stunden in allen Schichten mit Demonstrationen und Autokorsos in Lüchow, Bad Sobernheim-Bockenau-Grolsheim, Hann, Münden und Leinefelde. Es wird immer deutlicher: Die Beschäftgten sind zum Kampf bereit.

Zudem übt die IG Metall über die Kundenbetriebe Druck auf die Musashi-Geschäftsleitung aus: Wenn die Zulieferungen von Musashi ausbleiben, dann stehen auch bald die Bänder bei Volvo, VW und Daimler Truck still. Genau das will die japanische Konzernspitze unbedingt vermeiden. Musashi hat sich ja erst vor wenigen Jahren in den deutschen Markt eingekauft.

„Als wir in den Verhandlungen trotz Warnstreiks nicht vorwärts kamen, haben wir die Feiertagsarbeit über Ostern verweigert“, berichtet Simone Krämer, Betriebsratsvorsitzende in Bad Sobernheim, Bockenau und Grolsheim. „Und endlich haben wir über einen Simultandolmetscher mal direkt mit unserem japanischen CEO Miyata gesprochen. Da wurden auch mal kulturelle Dinge geklärt. Der hat überhaupt nicht verstanden, warum wir hier streiken.“

Ihren Höhepunkt erreichen die Aktionen mit dem 24-Stunden-Warnstreik am 25. April an allen Standorten. 1000 Beschäftigte kommen zur gemeinsamen Demonstration in Leinefelde.

Die Folgen: Die Kunden können nicht mehr pünktlich beliefert werden. Es gibt erste Bandabrisse bei Volvo, weitere Autobauer stehen ebenfalls kurz vor dem Stopp. Bei der Demonstration stellen Beschäftigte und IG Metall die Geschäftsführung vor die Entscheidung: „Verhandlungslösung oder unbefristeter Arbeitskampf“.

Statt „Giftliste“ nun Zukunft bis 2030 sicher

Die IG Metall bereitet Urabstimmung über unbefristete Streiks vor – und bietet der Geschäftsleitung noch einmal eine letzte Chance, doch noch in Verhandlungen zu einer Lösung zu kommen. Nach 72 Stunden Verhandlungen lenkt die Geschäftsführung am 2. Mai schließlich ein. Er ist endlich da, der von den Beschäftigten ersehnte Zukunfts- und Sozialtarifvertrag.

Alle Standorte sind bis 2030 gesichert. Zwar verzichten sie auf Geld: auf das T-ZUG B (etwas unter 400 Euro im Jahr) und das Transformationsgeld (26,7 Prozent im Februar). Doch ihre Arbeitsplätze sind gesichert. IG Metall-Mitglieder sind bis 2026 vor betriebsbedingten Kündigungen geschützt. Zudem wird der Ost-Standort in Leinefelde nun stufenweise von 38 Stunden an die 35-Stunden-Woche wie im Westen angeglichen. Der Plan, alle Standorte mitzuziehen, ist gelungen. Zudem bestimmen sie ab jetzt über ihre Zukunft mit.

„Viel besser als erwartet. Was wir geben müssen, tut nicht so weh“: In der Art kommentieren viele Beschäftigte den Tarifabschluss. Auf Mitgliederversammlungen haben sie über Ziele aber auch über mögliche Zugeständnisse in den Verhandlungen diskutiert.

Am Ende stimmen 97,96 Prozent der IG Metall-Mitglieder für die Annahme des neuen Zukunfts- und Sozialtarifvertrags.

Jetzt geht es an die Umsetzung, um die Gestaltung der Zukunft, um Investitionen, Produkte. Auch da sind die Beschäftigten dabei, bestimmen mit. Als erstes wollen sie nun die Arbeitsorganisation angehen, damit etwa Maschinen nicht immer wieder stehen, erklärt Betriebsrätin Simone Krämer. „Ich bin stolz auf meine Kolleginnen und Kollegen und erwarte weiter die aktive Beteiligung aller Mitglieder der IG Metall.“

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