Sozialstaat erneuern
Warum Hartz IV nicht bleiben darf, wie es ist

Hartz IV ist Kampfbegriff, Hassobjekt, Fetisch - und braucht dringend Korrekturen. In einer Arbeitswelt, die sich rasend schnell wandelt, muss der Sozialstaat sein zentrales Versprechen erneuern: Wer fällt, wird aufgefangen.

Eigentlich lief für Lutz Becker alles nach Plan. Ein fester Job, sogar eine kleine Karriere bei einem Metallbetrieb in der Nähe von Gießen. Noch heute schwingt Stolz mit, wenn er davon erzählt: "Nach dem Wehrdienst bin ich in die Firma reingewachsen, habe mich hochgearbeitet", sagt er. Er macht seinen Industriemeister, arbeitet zuletzt als Versandleiter.

Doch dann der Bruch: 2012 verliert der Metaller seinen Job - betriebsbedingte Kündigung. Neue Beschäftigung findet der 54-Jährige danach immer nur kurzzeitig. Schließlich muss er Hartz IV beantragen.

Über das Hartz IV-System macht er sich seitdem viele Gedanken. Der Metaller hat dabei nicht nur an seine eigene Lage im Blick. Er denkt auch an Kolleginnen und Kollegen, die Arbeit haben. "Was passiert denn mit der arbeitenden Bevölkerung? Die hat Angst vor Hartz IV und lässt sich deshalb zu viel gefallen", sagt er.

Die Grundsicherung hänge wie ein Damoklesschwert über den Menschen. Unbezahlte Überstunden, Niedriglöhne - zu all diesen Missständen auf dem Arbeitsmarkt trage das Hartz IV-System bei.


Versprechen gebrochen

Fakt ist: Wer heute seinen Job verliert, rutscht schnell in Hartz IV. In der Regel ist das nach zwölf Monaten der Fall, auch wenn man jahrzehntelang berufstätig war und in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat.

Oft geht es noch schneller. Nämlich dann, wenn Betroffene die Voraussetzungen für das Arbeitslosengeld I nicht erfüllen. Jeder vierte sozialversichert Beschäftigte landet bei Arbeitslosigkeit direkt in Hartz IV.

Der Sozialstaat hält sein wichtigstes Versprechen nicht: Wer fällt, wird aufgefangen. Und das in Zeiten, in denen sich die Arbeitswelt rasend schnell wandelt und den Beschäftigten viel abfordert.


Reformieren? Abschaffen?

Metaller Lutz Becker ist mit seiner Hartz IV-Kritik deshalb nicht allein. Die Gewerkschaften haben die Hartz-Reformen seit ihrer Einführung kritisiert. Nun nimmt die Debatte immer mehr Fahrt auf. SPD-Chefin Andrea Nahles will Hartz IV hinter sich lassen. Der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck hat ebenfalls Vorschläge für eine Reform vorgelegt.

Die IG Metall verfolgt bei Hartz IV einen doppelten Ansatz: Zum einen geht es darum, das Hartz IV-System neu zu gestalten und wesentliche Teile zu überwinden. Genauso wichtig sind Reformen, die darauf zielen, dass ein Grundsicherungsbezug von vornherein vermieden wird. Dazu muss vor allem der Schutz der Arbeitslosenversicherung ausgebaut werden.


Längerer Schutz

Aus Sicht der IG Metall muss die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I auf bis zu 36 Monate verlängert werden, nach Lebensalter gestaffelt. Die Voraussetzungen für ALG I-Bezug müssen erleichtert werden. Derzeit gilt: Nötig sind mindestens zwölf Monate sozialversicherungspflichtige Beschäftigung innerhalb der letzten zwei Jahre. Die Bundesregierung hat zuletzt beschlossen, diesen Zeitraum auf immerhin zweieinhalb Jahre auszuweiten.

Die IG Metall fordert außerdem eine deutliche Anhebung des Hartz IV-Regelsatzes. Außerdem müssen bei besonderem Bedarf Einmalzahlungen gewährt werden - zum Beispiel, wenn die Waschmaschine kaputt geht.

Eine Grundsicherung stellt das soziale und kulturelle Existenzminimum dar, das nicht unterschritten werden darf. Kürzungen der Grundsicherung - wie sie die derzeitige Sanktionspraxis bedeuten - lehnt die IG Metall daher ab. Besonders kritisch ist die schärfere Sanktionierung von unter 25-Jährigen.

Auch die Zumutbarkeitsregeln sind aus Beschäftigungssicht kontraproduktiv. Erwerbslose können heute zu Arbeiten gezwungen werden, die unterhalb ortsüblicher Löhne entlohnt werden. Das fördert Billigkonkurrenz. Weder sozialer Status noch Qualifikation sind geschützt. Es macht aber keinen Sinn, einen Meister als Hilfsarbeiter arbeiten zu lassen. Seine Qualifikation geht dabei schleichend verloren.

Wichtigstes Ziel bleibt: Vermeiden, dass Menschen überhaupt auf Grundsicherung angewiesen sind. Dazu braucht es Tarifbindung und Qualifizierung.

Dieser Weg wäre auch Lutz Becker am liebsten. Er will so schnell wie möglich raus aus Hartz IV und versucht, sich selbst zu helfen. Weil er in seiner alten Branche nichts findet macht er jetzt einen Bus-Führerschein. Busfahrer werden gesucht, sagt er.

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