Erwerbsminderung: Mit 56 Jahren zu krank zum Arbeiten
Erst geschuftet, dann im Stich gelassen

Fast 200 000 Menschen jährlich erhalten eine Rente wegen Erwerbsminderung. Doch nur jeder zweite Kranke kann bei der Rentenversicherung diese Unterstützung durchsetzen. Und wer sie bekommt, muss in der Regel Abschläge und finanzielle Nachteile hinnehmen. Es ginge auch anders, sagt die IG Metall.

20. März 201320. 3. 2013


Das ist die bittere Realität, nachdem die Regierung 2001 den Zugang zu dieser Rentenform verschärft hat: Wer die Erwerbsminderungsrente vor dem 63. Geburtstag bezieht, muss seither Abschläge hinnehmen. Wer nicht mehr in seinem Beruf arbeiten kann, der könne ja andere, leichtere Tätigkeiten ausüben, wird häufig argumentiert. Das aber geht an der Realität vorbei. Es fehlt schlicht an passenden Jobs in ausreichender Zahl. Die Folge: Wer durch seine Arbeitsbedingungen krank geworden ist, dem drohen der Sturz in die Arbeitslosigkeit und danach Hartz IV. Die reguläre Altersrente fällt dadurch noch niedriger aus. Fazit: Hunderttausende schuften also, bis sie kaputt sind, und werden anschließend im Stich gelassen.


Nach einem langen Arbeitsleben bleibt kaum genug zum Leben

Wenn Dietmar Muschert seine gesundheitlichen Einschränkungen aufzählt, kommt eine lange Liste zusammen: Bandscheiben- und Wirbelsäulenbeschwerden, Arthritis, Embolien und verengte Adern sowie gequetschte Nerven am Rückenmark sind nur die größten Probleme. Dietmar Muschert, geboren 1956, wurde mehrfach operiert und muss regelmäßig starke Schmerzmittel nehmen. Nun sind auch noch Magengeschwüre hinzugekommen ― vom Ärger mit seinem letzten Arbeitgeber, ist er überzeugt: „Ich kann oft kaum schlafen. Und wenn ich aufstehen will, brauche ich 40 Minuten, bis ich aus dem Bett raus bin. Autofahren geht mit den Medikamenten auch nicht mehr, ich bin auf der Autobahn schon in Sekundenschlaf gefallen“, berichtet der gelernte Bauschlosser. Seit Oktober ist Dietmar Muschert nun arbeitsunfähig geschrieben und kämpft derzeit darum, eine Reha bewilligt zu bekommen. Dort sollen die Ärzte dann auch untersuchen, ob er dauerhaft erwerbsunfähig ist. Damit gehört Dietmar Muschert zu den Hunderttausenden, die nach einem langen Arbeitsleben bangen müssen, ob ihnen genug zum Leben bleibt.


292 Arbeitsstunden im Monat ― ein trauriger Rekord

„Ich bin viel rumgekommen in meinem Berufsleben, war 20 Jahre auf Montage im Bereich Industrieabbruch, habe viele Zechen und Stahl- oder Chemiewerke abgerissen“, erzählt Dietmar Muschert von seiner Zeit als Baustellenleiter. Zuletzt hat ihn der Dienstleister einer Spedition ausgebeutet, wie er sagt. Anders könne man diesen Job als Haustechniker nicht bezeichnen: Während die beauftragende Spedition seinem Arbeitgeber 14 Euro für eine Einsatzstunde zahlte, verdiente Dietmar Muschert anfangs nur 7,50 Euro. Muschert hatte jeden Monat 240 Stunden und mehr auf dem Zettel. „Im Februar 2012 hatte ich mit 292 Stunden meinen Rekord: Ich habe fast jedes Wochenende gearbeitet und nur wenig mehr als die Hälfte der bei der Spedition direkt angestellten Haustechniker verdient. Nebenher habe ich für meinen Arbeitgeber noch auf Messen oder Trödelmärkten den Schließdienst gemacht, oft war das Nachtarbeit.“


Perspektive Arbeitslosigkeit und Hartz IV

Keine 15 Jahre war Muschert alt, als er seine Ausbildung begann. Etwa 1 000 Euro Rente würde der heute 56-Jährige für sein gesamtes Arbeitsleben derzeit bekommen, hat er sich ausrechnen lassen. Weil seine Miete sehr niedrig ist, würde Muschert damit wohl irgendwie über die Runden kommen. Derzeit lebt er von knapp 900 Euro Krankengeld im Monat. „Das ist schon eng. Ich habe eine von meinen beiden privaten Rentenversicherungen gekündigt. Und wenn ich keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bekomme, dann muss ich die andere wohl auch noch kündigen.“

Eigentlich ist es nicht nachvollziehbar, dass jemand wie Dietmar Muschert nicht längst als erwerbsunfähig anerkannt ist. Doch sein Beispiel ist typisch für die immer schwierigere Genehmigung dieser Rentenart. Was will er tun, wenn sein Antrag auf Erwerbsunfähigkeit endgültig abgelehnt wird? „Einen Job suchen“, antwortet er, „aber große Chancen hab ich da nicht“. Er könne ja kaum etwas machen, nicht laufen und nicht tragen. Sitzen ginge zwar, aber vornübergebeugt bekomme er auch schnell Probleme. „Und welche sitzenden Jobs gibt es schon für mich? Als Pförtner müsste ich Schichten von zwölf Stunden machen, das schaff’ ich nicht. Fahrer würde vielleicht gehen, wenn ich nicht die Medikamente nehmen müsste“, sagt Dietmar Muschert. Trotz seiner vielen Gesundheitsprobleme hat er etliche Bewerbungen geschrieben. „Aber mich nehmen nicht mal die, die auch nach Leuten über 50 suchen. Wenn ich nicht als erwerbsunfähig anerkannt werde, kann ich noch 18 Monate Arbeitslosengeld bekommen und dann Hartz IV.“ Dann ist er noch nicht mal 58 Jahre alt.

So wie Dietmar Muschert geht es zu vielen Menschen. Mittlerweile werden 96 Prozent der Renten wegen Erwerbsminderung mit Abschlägen ausgezahlt. Und wer nach 1961 geboren wurde, hat auch keinen Schutz mehr vor sozialem Abstieg, denn: Die Berufsunfähigkeitsrente hat der Gesetzgeber ganz abgeschafft. Seit der Reform im Jahr 2001 kann die Rentenversicherung mit der „abstrakten Verweisung“ den Arbeitnehmer zu praktisch jeder Tätigkeit auffordern. Konkrete Arbeitsfelder muss sie dafür nicht benennen, es reicht, wenn sie allgemein darstellt, unter welchen Bedingungen eine Arbeit möglich wäre. Ob es solche Jobs gibt und ob in dem Bereich auch freie Stellen in nennenswerter Zahl existieren, ist nicht von Belang.


Es geht auch anders ― die Alternativen der IG Metall

Die IG Metall begrüßt es durchaus, dass ältere Beschäftigte nicht mehr grundsätzlich als leistungsschwächer angesehen werden. Der Wechsel zum Kompetenzmodell, das davon ausgeht, dass ältere wie jüngere Beschäftigte jeweils besondere Stärken, Schwächen und Kompetenzen haben, ist richtig. Aber es darf darüber nicht vergessen werden, dass die Arbeitsfähigkeit im höheren Alter sowohl individuell als auch abhängig vom ausgeübten Beruf sehr unterschiedlich ausfällt. Kurz gesagt: Es dürfen nicht alle über einen Kamm geschoren werden. Oder in den Worten von Dietmar Muschert: „Ich habe keinen Dachdecker oder Gerüstbauer gesehen, der mit 67 noch arbeitet. Nur wenige Ausnahmen schaffen es doch überhaupt bis 65. Und wenn die Leute mit 62 oder 63 den Antrag stellen, bekommen sie Abzüge.“ Die Rente mit 67 hält er deshalb für eine versteckte Rentenkürzung.

Angesichts solcher Missstände ist die Forderung der IG Metall klar: Der Zugang zur Rente wegen Erwerbsminderung muss wieder leichter werden, die Auszahlung muss ohne Abschläge erfolgen. Die volle Rente sollten Arbeitnehmer bereits dann erhalten, wenn sie nach dem 55. Lebensjahr nur noch leichte Tätigkeiten verrichten können – außer, ihnen kann ein konkreter freier Arbeitsplatz vermittelt werden. Außerdem muss es statt einer starren Altersgrenze flexiblere Möglichkeiten zum Ausstieg aus dem Erwerbsleben geben: für diejenigen, die zwar noch nicht völlig kaputt sind, die aber gleichwohl ihren Job nicht mehr oder nur noch teilweise bewältigen.


„Schonarbeitsplätze“ gibt es nicht

„Bei uns im Betrieb hält kein Kollege länger als bis 58 durch“, sagt auch Mario Becker. Er ist Betriebsratsvorsitzender in einem kleinen Unternehmen südlich von Magdeburg, das Stachel- und Maschendraht herstellt. Die Kollegen in der Produktion arbeiten im Zweischichtsystem und werden nach Leistung bezahlt. „Jeder ist für drei Maschinen zuständig. Um auf 100 Prozent zu kommen, müssen sie 50 Rollen in der 8-Stunden-Schicht heben. Jede der Rollen wiegt 35 Kilo“, berichtet Mario Becker. Die Mitarbeiter müssen also fast zwei Tonnen bewegen, um auf den vollen Lohn zu kommen – kein Wunder, dass sie nicht bis 65 durchhalten, geschweige denn bis 67. Und es sind nicht nur Dachdecker, Bauschlosser oder Stahlwerker, deren Körper vorher aufgibt. Auch die Krankenschwester oder Altenpflegerin hebt trotz aller Hilfsmittel oft Hunderte von Kilo an einem Arbeitstag. Da ist es kein Wunder, wenn die Bandscheibe oder der Rücken nach Jahrzehnten kaputt sind. Ebenso erreichen Busfahrerinnen und -fahrer nur selten die Regelarbeitsgrenze. Betriebsrat Mario Becker weiß: „Die sogenannten Schonarbeitsplätze sind bei uns im Betrieb und in der Region überhaupt nicht vorhanden.“

Das ist kein Einzelfall, sondern ein weitverbreitetes Problem, weiß Michael Christmann. Der 50-jährige Kaufmann und Betriebsratsvorsitzender der Daimler AG-Niederlassung Saarland berichtet, dass dort im Werkstattbereich Schäden an Bandscheiben, Rücken oder Gelenken der Preis für die körperlich anstrengende Arbeit sind. Aber auch die psychischen Belastungen nehmen zu, beobachtet Michael Christmann. „Viele Unternehmen haben gar keine Erfahrung mit altersgerechten Arbeitsplätzen. Bei uns in der Werkstatt hat noch keiner bis 65 gearbeitet, deshalb gibt es auch keine Erfahrungswerte, ob die Leute das überhaupt schaffen können.“ Der Betriebsrat versuche, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um Stellen für die Älteren etwa im kaufmännischen Bereich zu schaffen. „Aber für die meisten ist das keine realistische Option und so viele Schonarbeitsplätze können wir gar nicht schaffen.“ Und dabei ist die Daimler-Niederlassung Saarland keine kleine Hinterhofwerkstatt, sondern ein Unternehmen mit 400 Mitarbeitern. Allerdings: „Als ich vor zehn Jahren erstmals zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt wurde, waren wir noch 470 Kolleginnen und Kollegen. Und die Arbeit ist nicht unbedingt weniger geworden“, sagt Michael Christmann. Weniger Personal für höhere Dividenden ist der Trend ― auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten.


Mehr psychische Erkrankungen durch schlechtere Arbeitsbedingungen

Natürlich ist auch das Büro nicht automatisch ein Ort der Erholung. Hier kommt es wegen mangelnder ergonomischer Arbeitsplätze ebenfalls häufig zu Problemen mit dem Rücken. Und schließlich nehmen Ansprüche wie ständige Erreichbarkeit, Arbeit in mehreren Projekten zugleich, Arbeitsverdichtung und Stress in vielen typischen Büroberufen derart zu, dass die Zahl der psychischen Erkrankungen ständig steigt. Fast 71 000 Menschen mussten 2010 wegen einer psychischen Erkrankung wie Depression oder Burn-Out vorzeitig in Rente gehen. Das waren fast 40 Prozent aller Frühverrenteten und damit anteilsmäßig die größte Gruppe. Ihre Zahl ist zwischen 2007 und 2010 um fast ein Drittel gestiegen. „Immer weniger müssen immer mehr arbeiten, da ist es kein Wunder, dass der Stress steigt und psychische Erkrankungen stark zunehmen“, erklärt Michael Christmann.

Bei Daimler werden mittlerweile die Azubis nach Abschluss ihrer Ausbildung darüber beraten, wie sie sich für die Zukunft absichern können, gerade auch für die Berufsunfähigkeit. Das Projekt hat die IG Metall zusammen mit dem Konzern angestoßen. Es läuft auch in Saarbrücken. „Aber von uns Älteren hat kaum einer eine Versicherung gegen Berufsunfähigkeit. Wenn man dann sieht, wie wenig Geld bei berufsunfähigen Kollegen oder Freunden noch aufs Konto kommt, da bekommt man schon Angst“, sagt Michael Christmann. Die Politik müsse hier dringend etwas tun, das sei für ihn nach der Frage der Altersgrenze das wichtigste Thema im Bereich Rente. Die Alternative ist der Gang zum Sozialamt. Doch davor scheuen sich viele, weiß Michael Christmann. Häufig ziehen sich die Menschen nach und nach zurück, verlieren ihre sozialen Kontakte, weil sie kein Geld haben für Kino, Verein oder andere Unternehmungen.

Für den kranken Dietmar Muschert ist deshalb eines klar: „Es sollte eine Mindestrente ohne Wenn und Aber geben“, fordert er und denkt dabei vor allem an die junge Generation. „Meine Tochter ist 30 und verdient 1 200 bis 1 300 Euro im Monat. So geht es vielen jungen Leuten. Die bekommen doch später kaum noch Rente und sollen deshalb privat vorsorgen. Aber wovon, frage ich, wenn sie mit dem Geld auch noch eine Familie ernähren müssen?“

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