Bessere Vereinbarkeit
Schicht und Flexibilität – machbar oder purer Widerspruch?

Fast 17 Prozent der Beschäftigten in Deutschland arbeiten in Schichtmodellen. Das verlangt den meisten viel ab, wenn es um das private Leben geht. Ein Projekt bei Volkswagen in Wolfsburg und Kassel zeigt, wie durch innovative Veränderungen auch das starre Schichtsystem attraktiver werden kann.

26. August 202126. 8. 2021


In Teilzeit arbeiten, um Vollzeit zu leben – das ist Lena Krausmüllers Motto. Die 30-jährige Mechatronikerin arbeitet leidenschaftlich gerne bei VW in Kassel. Gleichzeitig will sie eine gute Balance zwischen Arbeit und Freizeit in ihrem Leben – keine Selbstverständlichkeit im Schichtbetrieb. Seit sie vor fünf Jahren Mutter geworden ist, arbeitet sie statt des Dreischichtbetriebs nur noch in der Frühschicht von 6 bis 14 Uhr und das vier Tage die Woche. Die Vorurteile gegenüber Kolleginnen, häufig auch Mütter, die mit weniger Arbeitsstunden am Tag in Teilzeit arbeiten, kennt sie gut. „Oft werden sie nicht als voller Teil der Belegschaft gesehen“, sagt Lena.
 

Arbeitsplätze noch attraktiver machen

Respekt, Flexibilität, Vielfalt und Vereinbarkeit – alles Themen, die Beschäftigten wichtig sind und Arbeitsplätze attraktiver machen. Auch Arbeitgeber haben immer größeres Interesse daran, spätestens seit der Fachkräftemangel den Wettstreit um qualifizierte Arbeitskräfte verschärft hat. Doch lässt sich das alles mit dem starren Schichtmodell vereinbaren? Ein Projekt bei Volkswagen in den Werken Wolfsburg und Kassel hat sich genau diese Frage gestellt und ist zu bemerkenswerten Ergebnissen gekommen.

Die Idee des Projekts, das 2018 in Kassel gestartet ist, ist einfach: Beschäftigte sind selbst die besten Expertinnen und Experten für ihre Arbeit und wissen somit, wo Verbesserungen nötig sind. In beiden VW-Werken trafen um die 70 Teilnehmende aus dem direkten Bereich auf Vertreterinnen aus der Personalabteilung, dem Betriebsrat, Führungskräfte und Projektverantwortliche des EAF – Instituts Berlin, das dieses Projekt mit EU-Fördermitteln wissenschaftlich begleitet hat.

In der ersten Phase wurden Themen erarbeitet, die für die Beschäftigten in der Halle wichtig sind: wie Teilzeit, Wissenstransfer oder Mobile Arbeit. Anschließend haben sich die Teilnehmenden in der zweiten Phase dann einem Themenfeld für die Gruppenphase zugeordnet und an den Themen gearbeitet.
 

Transformation fordert neue Antworten

Schnell war klar, egal ob Vollzeit oder Teilzeit, jung oder alt – einige Themen betreffen alle. „Die Transformation fordert neue Antworten von uns dazu, wie Beschäftigte auf dem sogenannten Hallenboden zusammenkommen können, um sie zu gestalten“, sagt Ulrike Jakob, stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei VW in Kassel und Teil des Lenkungskreises. Auch das Thema Diversität habe einen neuen Stellenwert im ganzen Betrieb bekommen. „Da war es an der Zeit zu fragen: Wie können wir neue Lösungsansätze mal konkret ausprobieren? Was heißt es denn, die Kolleginnen und Kollegen zu beteiligen und sie gestalten zu lassen – und was heißt das für die Rolle von Führungskräften? Dieses Projekt war der ideale Raum, um hier zu experimentieren und vom Hallenboden zu lernen.“

Für Lena, die auch an dem Projekt teilgenommen hat, ging es auch in die Praxis. Sie und eine Kollegin haben gemeinsam ein Tandemmodell getestet, bei dem ihre Arbeitszeit zusammen eine volle Schicht ergeben musste. Wie die beiden ihre Zeiten einteilen, war komplett ihnen überlassen. Der Vorgesetzte hat den Kolleginnen im Rahmen des Projekts alle Freiheiten gelassen: „Mir ist egal, wie ihr eure Arbeit einteilt, Hauptsache ihr macht eure Arbeit“, so seine Ansage. „Wir waren beide nach der Testphase so begeistert, dass wir am liebsten genauso weitergearbeitet hätten“, sagt Lena.
 

Mit Pilotprojekt in die Praxis

Ihr Fazit? „Viele Teilzeitbeschäftigte sind viel flexibler, als die denken, die die Schichtpläne machen“, sagt Lena, die im Betrieb auch häufig „die Stimme vom Hallenboden“ genannt wird. „Man muss uns nur fragen.“ Nun geht es darum, die vielen Erfahrungen und einige erprobte Lösungsansätze im laufenden Betrieb umzusetzen – ohne dabei Arbeitsgesetze, Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge zu missachten. Ein Pilotprojekt soll genau dafür sorgen.

„Wir sind alle beeindruckt von der Art der Zusammenarbeit und der bisherigen Projektergebnisse“ sagt Susanne Preuk, Betriebsrätin in Wolfsburg und Vorsitzende des Ausschusses für Chancengleichheit, Gleichstellung und Vereinbarkeit im Gesamtbetriebsrat der Volkswagen AG. Für sie steht fest: „Oft reichen ein wenig Bestärkung für die Beschäftigten, sich selbst einzubringen, und die Bereitschaft der Unternehmensseite, Neues zu diskutieren, um alte Strukturen so aufzubrechen, dass alle Beteiligten gemeinsam profitieren können. Das macht den Kolleginnen und Kollegen bei Volkswagen Mut in Hinblick auf die Transformation und Digitalisierung.“

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