Fragen und Antworten zur Tarifeinheit
Was bringt die geplante Änderung der Rechtsprechung?

Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat angekündigt, am morgigen Mittwoch einen Beschluss zur Tarifeinheit zu fassen. Das BAG will hierfür die Rechtsprechung ändern. Dabei geht es um die Frage, ob in einem Betrieb mehrere Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften nebeneinander gelten können.

22. Juni 201022. 6. 2010


Angesichts des Organisationsprinzips deutscher Gewerkschaften „Ein Betrieb – eine Gewerkschaft“ sowie der dominanten Stellung der DGB-Gewerkschaften überschneideten sich selten mehrere Tarifverträge. Allerdings nimmt die Zahl solcher Fälle zu, was der Frage, ob in einem Betrieb Tarifverträge unterschiedlicher Gewerkschaften nebeneinander gelten können, Aktualität verleiht.

Mit der Ankündigung, seine Rechtssprechung zur Tarifeinheit ändern zu wollen, hat das Bundesarbeitsgericht (BAG) in der Presse für erhebliche Aufregung gesorgt: Von einer „nachhaltigen Veränderung“ der deutschen Tariflandschaft schrieb die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Insbesondere große Unternehmen fürchteten eine „Zersplitterung der Belegschaft“ sowie eine „Welle“ von Arbeitskämpfen, so das Blatt. Die Arbeitgeberverbände warnten im „Handelsblatt“ gar vor einer Erosion der Tarifordnung und riefen nach einer gesetzlichen Neuregelung.

In einem Fachbeitrag „Tarifeinheit oder Zerstörung der Tarifordnung?“ befasst sich IG Metall-Justiziar Thomas Klebe ausführlich mit dem Vorhaben des BAG und zeigt mögliche Konsequenzen einer geänderten Rechtssprechung auf. Wir haben im Folgenden die wichtigsten Fragen und Antworten rund um das Thema zusammengestellt.


Was ist Tarifeinheit?

Die Tarifeinheit ist ein Grundsatz im Arbeitsrecht, der besagt, dass in jedem Betrieb nur ein Tarifvertrag gelten kann. Zu einer Überschneidung zweier Tarifverträge in einem Unternehmen kann es kommen, wenn

  • auf das Arbeitsverhältnis eines Arbeitnehmers zwei unterschiedliche Tarifverträge anwendbar sind. In diesem Fall spricht man von Tarifkonkurrenz. Diese Situation entsteht zum Beispiel, wenn die Gewerkschaft des Arbeitnehmers neben einem Flächentarifvertrag einen Firmentarifvertrag abgeschlossen hat.
  • ein Arbeitgeber parallel mit mehreren Gewerkschaften Tarifverträge abgeschlossen hat, von denen für die Beschäftigten je nach Gewerkschaftszugehörigkeit allerdings nur einer anzuwenden wäre. In diesem Fall spricht man von Tarifpluralität. Zur Tarifpluralität kann es kommen, wenn ein Arbeitgeber mit mehreren Gewerkschaften nebeneinander für dieselben Tätigkeiten (Firmen-)Tarifverträge abschließt.


Was ist die bisherige Rechtspraxis?

Bisher entscheidet das BAG in Fällen von Tarifkonkurrenz oder Tarifpluralität nach dem Spezialitätsprinzip zu Gunsten des Grundsatzes der Tarifeinheit: ein Betrieb – ein Tarifvertrag. Bestehen in einem Betrieb mehrere Tarifverträge, gilt für die Gewerkschaftsmitglieder unter den Beschäftigten demnach immer nur der speziellere.

Das ist jener Vertrag, der räumlich, fachlich und personell näher an den Bedingungen des Betriebes anknüpft und somit nach Auffassung des BAG den Erfordernissen und Eigenarten des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trägt – unabhängig davon, ob die Gewerkschaft, die ihn abgeschlossen hat, im Betrieb die Mehrheit der Beschäftigten vertritt. Der speziellere Vertrag gilt auch dann, wenn er für den Arbeitnehmer ungünstigere Regelungen enthält, als der verdrängte.

Für das Spezialitätsprinzip ergibt sich aus dem Tarifvertragsgesetz allerdings keine rechtliche Grundlage. Das BAG begründet dessen Anwendung mit der Funktionsfähigkeit des Tarifsystems: Gelten in einem Unternehmen nebeneinander mehrere Tarifverträge, schaffe das Unklarheiten und sei für den Arbeitgeber nicht praktikabel.

In Fällen von Tarifkonkurrenz, in denen beide Veträge von ein und derselben Gewerkschaft für ihre Mitglieder abgeschlossen worden sind, ist die Anwendung des Spezialitätsprinzips unproblematisch. In Fällen der Tarifpluralität ist sie allerding nicht akzeptabel, weil dadurch die Mitglieder der Gewerkschaft, deren Vertrag verdrängt wird, in ihrer Koalitionsfreiheit eingeschränkt werden.


Was bedeutet das für Arbeitnehmer?

Nach der bisherigen Rechtssprechung des BAG setzen sich Haustarifverträge als speziellere Regelungen immer gegenüber den „allgemeineren“ Flächentarifverträgen durch. Aber auch Tarifverträge von Spartengewerkschaften wie dem Marburger Bund, der GDL oder der Vereinigung Cockpit werden durch das Spezialitätsprinzip begünstigt.

Arbeitgeber haben die geltende Rechtspraxis durch Abschlüsse von Haustarifverträgen mit der Christlichen Gewerkschaft Metall (CGM) ausgenutzt, um mit der IG Metall geschlossene Flächentarifverträge auszuhebeln und so Löhne zu drücken und Arbeitszeiten zu verlängern.

Denn die IG Metall-Mitglieder verlieren durch den „spezielleren“ Abschluss alle Rechte aus dem Tarifvertrag, den ihre Gewerkschaft für sie abgeschlossen hat. Und das selbst wenn beispielsweise bei 1000 Beschäftigten im Betrieb nur drei der CGM, aber 300 der IG Metall angehören. Das ist ein klarer Verstoß gegen die verfassungsrechtlich garantierte Koalitionsfreiheit der Beschäftigung.


Was plant das Bundesarbeitsgericht?

Der vierte Senat des BAG möchte seine Rechtsprechung zur Tarifeinheit bei Tarifpluralität ändern und hat daher beim zehnten Senat, der ebenfalls mit diesem Thema befasst ist, nachgefragt, ob er mit der Änderung einverstanden ist. Es geht also zunächst um eine einheitliche Rechtsprechung des Gerichts.

Nach den Vorstellungen des vierten Senats sollen im Falle von Tarifpluralität künftig bei den so genannten Individualnormen, die Inhalt, Abschluss und Beendigung eines Arbeitsverhältnisses regeln, die Tarifverträge verschiedener Gewerkschaften für ihre jeweiligen Mitglieder nebeneinander gelten. Zu den Inhaltsnormen zählen beispielsweise Regelungen zu Entgelt-, Arbeitszeit- und Urlaubsfragen.

Unberührt von diesen Änderungsplänen bleiben betriebliche und betriebsverfassungsrechtliche Normen. Sie sind Teil der so genannten Kollektivnormen, in denen beispielsweise die Voraussetzungen für Kurzarbeit und die entsprechenden Mitbestimmungrechte des Betriebrats geregelt sind.


Wie bewertet die IG Metall die Pläne?

Der Vorstoß des BAG, bei den Inhalten eines Arbeitsverhältnisses künftig die geltenden Tarifverträge nebeneinander auf die jeweiligen Gewerkschaftsmitglieder anzuwenden, ist im Sinne der Koalitionsfreiheit und birgt aus gewerkschaftlicher Sicht keine Nachteile. Zudem erschwert es den Arbeitgebern, Flächentarife durch „speziellere“ Dumping-Tarife auszuhebeln.

Bei betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Regelungen muss es dagegen beim Grundsatz der Tarifeinheit bleiben: Ein Betrieb, ein Tarifvertrag. Hier muss allerdings das Mehrheitsprinzip entscheidend sein: Vorrang hat der Tarifvertrag, an den die Mehrheit der Beschäftigten im Betrieb über ihre Gewerkschaftszugehörigkeit gebunden ist, weil er über eine höhere Legitimation verfügt.


Was sagen die Arbeitgeber dazu?

Die Arbeitgeber befürchten einen Überbietungswettbewerb der Gewerkschaften. Dabei haben sie vor allem so genannte Sparten- oder „Spezialistengewerkschaften“, wie den Marburger Bund, die GDL oder die Vereinigung Cockpit im Blick, die für ihre Klientel – auf Kosten der Solidarität aller Beschäftigten im Betrieb – hohe Forderungen durchsetzen können.

Die Arbeitgeber befürworten, das Spezialitätsprinzip gesetzlich zu verankern. Somit hätten sie ein risikoloses Instrument zur Flucht aus Flächentarifverträgen in der Hand, während sich für die Gewerkschaften die Sogwirkung hin zum Haustarifvertrag verstärkte. Das Spezialitätsprinzip soll zudem mit einer Beschränkung des Streikrechts kombiniert werden, das den verdrängten Gewerkschaften eine Friedenspflicht auferlegt.

Solche Eingriffe in das Tarifvertrags- und Arbeitskampfrecht wären verfassungswidrig und kommen aus Sicht der Gewerkschaften nicht in Frage.

Letztlich geht es den Arbeitgebern darum, durch das Festschreiben des Spezialitätsprinzips weiterhin einen gewerkschaftlichen Unterbietungswettbewerb zu ermöglichen und einen Überbietungswettbewerb zu verhindern.

 

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