Der Stoff, der uns schützt

Es können derzeit gar nicht so viele Atemschutzmasken wie nötig hergestellt werden, weil Kapazitäten fehlen und Lieferketten unterbrochen sind. Die Unternehmen Conzelmann und Reifenhäuser haben trotzdem schnell reagiert. Weil sie Beschäftigte und Betriebsräte haben, die vieles möglich machen.

1. Mai 20201. 5. 2020
Jan Chaberny und Martina Helmerich


Reifenhäuser: Vliese stoppen das Virus

Forschung fällt zurzeit aus bei der Firma Reifenhäuser Reicofil: Weil das Land zurzeit nichts so sehr braucht wie Atemschutzmasken, hat das Unternehmen seine Versuchsabteilung am Hauptsitz in Troisdorf umfunktioniert. Dort stehen zwei Maschinen, die eigentlich für Forschung und Entwicklung gedacht sind. Kunden können neue Entwicklungen darauf testen.

Doch die Coronapandemie ändert alles: Die im Technikum installierten Anlagen stellen seit Ende März im Dauerbetrieb sogenanntes Meltblown-Material für dringend benötigte Atemschutzmasken her. Durch eine Kombination von Trägheits- und Diffussionseffekt sowie elektrostatischer Aufladung schützt das Vlies vor sehr kleinen Partikeln wie Viren und Bakterien.

Der Stoff besteht aus extrem feinen schmelzgesponnenen Mikrofasern. Jede einzelne Faser ist bis zu 70-mal dünner als menschliches Haar und gleichzeitig sehr lang. Das Material ist reißfest und luftdurchlässig und besteht aus Polymeren.


Produktion rund um die Uhr

Das Unternehmen Reifenhäuser reagiert mit der Dauerauslastung seiner Versuchsanlage auf den aktuellen Notstand in der Coronakrise bei der Versorgung mit medizinischem Schutzmaterial. Das Maschinenbauunternehmen stellt eigentlich Anlagen her, die hochwertige Vliese spinnen. Sie sind das Filtermaterial, das für Atemschutzmasken und medizinische Schutzkleidung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen benötigt wird. Die Aufträge für diese Maschinen sind jetzt wegen Corona spürbar gestiegen.

Um die Nachfrage nach dem Vlies zu bewältigen, laufen die Anlagen bei Reifenhäuser im Dreischichtbetrieb. Auch am Wochenende stehen sie nicht still.

„Es gibt eine hohe Bereitschaft in der Belegschaft, die Schichtpläne zu besetzen und auch in der Spät- und Nachtschicht zu arbeiten“, sagt Michael Kleine, Vorsitzender des Betriebsrats bei Reifenhäuser Reicofil. „Die Kollegen sehen, dass sie etwas Notwendiges herstellen, und identifizieren sich stark damit.“ Zwischen den Schichtwechseln ist jeweils eine Viertelstunde Puffer, sodass sichergestellt ist, dass sich die Kolleginnen und Kollegen aus den einzelnen Schichten nicht begegnen. Einer von ihnen ist der Verfahrenstechniker Bernd Masbach. Er hat sich freiwillig für den Dreischichtbetrieb gemeldet.

Täglich produziert Reifenhäuser so viel Material, dass man eine Million Masken daraus nähen kann. Der Stoff geht an öffentliche und karitative Initiativen, die in der Krise entstanden sind und die manuell Masken für Arztpraxen, Krankenhäuser und Pflegedienste nähen. In Deutschland fehlt es derzeit an industriellen Kunden, die das Material in großen Mengen abnehmen und hohe Stückzahlen produzieren können. Die Bundesregierung hat ein Programm aufgesetzt, mit dem sie Investitionen der Industrie durch Abnahme- und Preiszusagen absichert.

 

Bernd Masbach ist Verfahrenstechniker und IG Metaller. Er bedient die Anlage, auf der bei Reifenhäuser in Troisdorf Vliesstoffe gesponnen werden, die für Atemschutzmasken benötigt werden. Um den großen Bedarf zu decken, wurde rasch ein Dreischichtbetrieb eingerichtet. (Foto: privat)


Gebr. Conzelmann in Albstadt

Als der Anruf kam, war es Edith Stiefel sofort klar: Sie ist dabei. „Ich wusste, dass ich jetzt mithelfen muss“, sagt die Betriebsrätin der Firma Gebr. Conzelmann, ein kleines Textilunternehmen in Albstadt auf der Schwäbischen Alb. Und sie sagt auch: „Jeder Kollegin, jedem Kollegen war das klar.“

Der Anruf kam Mitte März. Ein Mitarbeiter der Landesregierung Baden-Württemberg klingelte bei der Geschäftsleitung durch. Ob man denn, fragte der Mitarbeiter, aufgrund extrem schnell steigender Coronainfektionszahlen die Produktion umstellen und statt Funktionsunterwäsche nun Atemschutzmasken herstellen könne. Am besten so schnell wie möglich, am besten in großer Menge.

„Wir haben die Produktion sofort umgestellt“, sagt Edith Stiefel. „Seitdem arbeite ich auch in der Näherei und unterstütze meine Kolleginnen. Wir sind als Team nochmals zusammengewachsen.“ Systemrelevanz in Zahlen: Seit dem 19. März produzieren die 162 Beschäftigten in Albstadt nun Masken im Zweischichtsystem: Die Frühschicht arbeitet von 5 Uhr morgens bis 13 Uhr, die Tagschicht von 13 Uhr bis 22 Uhr. 60 000 Masken stellen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Woche für Woche her. Doch die Zahlen sollen noch gesteigert werden. „Das können wir, weil wir in unserer Produktion weitgehend unabhängig sind“, sagt die 60-Jährige.

 

Edith Stiefel ist Betriebsrätin der Firma Gebr. Conzelmann in Albstadt. Seit dem 19. März produziert das Unternehmen Mund- und Nasenmasken. Edith Stiefel näht mit. (Foto: privat)

 

Die Produktion soll noch gesteigert werden

Weil das Unternehmen den Stoff in der eigenen Strickerei herstellt, weil es ihn selbstständig bleichen und auch veredeln kann, ist es von Fremdlieferanten weitgehend unabhängig. Die Masken von Conzelmann aus Albstadt sind keine medizinischen Schutzmasken, also Partikelfilter der Schutzklassen FFP2 und FFP3. Es sind einfache, wasch- und wiederverwendbare Mund- und Nasenmasken, die das Unternehmen vor allem an Pflegedienste, Arztpraxen, Krankenhäuser, aber auch Privathaushalte verkauft.

Es sind genau die Art Masken, von denen sich viele Politiker in Deutschland jetzt wünschen, dass möglichst viele Bürgerinnen und Bürger sie tragen. Es sind genau die Masken, die derzeit im Land fehlen.

Dazu sagt Edith Stiefel: „Wir können und wir werden die Produktion so lange aufrechthalten, bis der Bedarf unserer Kunden gedeckt und die Pandemie hoffentlich eingedämmt ist.“ Ganz zum Schluss des Interviews per Telefon sagt sie noch etwas: „So etwas wie jetzt, das habe ich noch nie erlebt. Aber das hat keiner von uns.“

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