Wandel einer Industrie
Wenn Pinguine nähen könnten – über die Verlagerung der Bekleidungsindustrie

Kaum ein T-Shirt ist heute noch „Made in Germany“. Wie es dazu gekommen ist und wie sich die Gewerkschaft dagegen gewehrt hat – ein Rückblick.

6. Oktober 20216. 10. 2021


Wer heute lokal produzierte Kleidung kaufen möchte, wird kaum fündig. Früher war das anders. Damals, als Bielefeld noch die Leinenstadt genannt wurde. Eine, die erlebt hat, wie die Nähmaschinen die Fabrikhäuser in Bielefeld mit einem lauten Rattern erfüllt haben, bevor 95 Prozent der Produktion in sogenannte „Billiglohnländer“ verlagert wurde, ist Edith Echterdiek. Die 85-Jährige hat die Entwicklung der Bekleidungsindustrie seit den 1950er Jahren erlebt.

Damals begann die spätere Betriebsratsvorsitzende ihre Lehre bei einer Herrenkonfektion. „35 Pfennig pro Stunde haben sie mir damals gezahlt“, sagt Edith. Beschäftigung war zu der Zeit noch genug da für die Näherinnen und Näher in der Region, doch die Arbeitsbedingungen machten ihnen zu schaffen. Kurz getaktete und kleinteilige Arbeitsschritte, eine krumme Haltung sowie viel Staub und Lärm machten die 48-Stunden-Woche oft zu einer Qual. „Es hat 39 Minuten gedauert, bis ein Hemd fertiggenäht war. Für uns hieß das 1000-mal den gleichen Handschlag am Tag zu wiederholen“, sagt Edith.
 

Verlagerung in ganz Europa eingesetzt

Die damalige Gewerkschaft Textil-Bekleidung (kurz GTB) brachte den Beschäftigten viele tarifliche Verbesserungen. „Die GTB hat durchgesetzt, dass die Näherinnen und Näher bezahlte Kurzpausen kriegen, so dass sie mit den organisierten Pausen nie länger als anderthalb Stunden am Stück arbeiten mussten“, sagt Peter Donath, Autor des Buches „Wir machen Stoff“ und bis 1974 Leiter des Bereichs Betriebspolitik beim IG Metall-Vorstand. „Auch das Mitbestimmungsrecht der Betriebsräte auf bestehende Arbeitsplätze und Verbesserungen rund um den Arbeitsplatz schafften ganz konkrete Verbesserungen für die Beschäftigten“, sagt Annette Szegfü, Co-Autorin des Buches und Gewerkschaftssekretärin in der Tarifabteilung der IG Metall.

Aber das alles half nichts, verlagert wurde trotzdem. „Von einem Tag auf den anderen standen plötzlich überall Kartons bei uns in der Firma, mit der Beschriftung ‘Hong Kong’. Da wussten wir sofort, was uns bevorstand“, sagt Edith. Aus der Chefetage hieß es nur, die Auftragslage sei nicht mehr ausreichend. Davon war zwar in der ausgelasteten Näherei wenig zu spüren, doch die Produktion wurde Stück für Stück ins Ausland verlagert. So mussten sich Edith und ihre Kolleginnen und Kollegen neue Jobs suchen. Das war in den 1970er Jahren.

In ganz Europa setzte nun eine Verlagerung nach Hong Kong, Macau, Südkorea und Taiwan ein. In diesen ostasiatischen Ländern wurde die Produktion für die Bekleidungsindustrie in einem enormen Tempo hochgefahren – ohne gerechte Löhne und gute Arbeitsbedingungen. „Wenn es in einem Land eine gewisse soziale Entwicklung gab, wenn die Gewerkschaften dort stärker wurden, dann hat man die Nähmaschinen eingepackt und ist ein anderes Land weitergezogen“, sagt Annette. Peter bestätigt das: „Ein Textilunternehmer aus dem Ruhrgebiet, Klaus Steilmann, hat immer gesagt, dass wenn es uns gelingen würde, den Pinguinen das Nähen beizubringen, wir die Produktion noch an den Südpol verlagern würden.“
 

Über eine Million Arbeitsplätze verschwinden

Die wohl größte Bemühung, die Abwanderung der Bekleidungsproduktion zu verhindern, war das Welttextilabkommen – wofür sich die GTB bei der Bundesregierung stark einsetzte. Dieses internationale Abkommen beschränkte den Freihandel durch Kontingente für Importe von Textil- und Bekleidungswaren nach Europa und in die USA. Das erste Abkommen dieser Art wurde 1973 geschlossen, das letzte lief 2004 aus. Die Verlagerung hatte zwar bereits in den 1950er Jahren begonnen, doch in den 1970er gab es einen großen Schub: 200 000 Arbeitsplätze gingen damals verloren. In Folge schwankte diese Entwicklung, doch in den 1990er Jahren setzte eine Dynamik ein, die ausweglos erschien.

„Damals sind so viele Arbeitsplätze verloren gegangen, dass die GTB gesagt hat: Wir haben nicht mehr das Reservoir, so viele Menschen zu organisieren. Die GTB-Vorstandsmitglieder hatten auch die Sorge, dass die zwangsläufig schrumpfende Mitgliederzahl keine Tarifpolitik mehr zuließe, die die Beschäftigten flächendeckend ausreichend schützt“, sagt Peter. Als Konsequenz beschloss die Gewerkschaft im Jahr 1996, ihre Eigenständigkeit aufzugeben. Seit 1998 organisieren sich die Beschäftigten in den textilen Branchen in der IG Metall. Heute arbeiten von einstmals 1 000 000 Beschäftigten in der alten Bundesrepublik und 300 000 in der DDR insgesamt nur noch 100 000 Beschäftigte in der Textil- und Bekleidungsindustrie.

„Die stückweise Abwanderung der Bekleidungsindustrie ist auch eine Geschichte der Ausbeutung von Frauen“, sagt Annette, denn es sind weltweit überwiegend weibliche Fachkräfte, die als Näherinnen in der Bekleidungsindustrie arbeiten – heute wie früher. „Vieles, wofür wir seit den 80er Jahren gekämpft haben, gilt ja nicht in den Ländern, wo sie heute überwiegend produzieren“, sagt Edith – „Mutterschutz, Kinderbetreuung, Kinderkrankentage.“ Auch wenn die Produktion der Bekleidung zum großen Teil unter schlechten Bedingungen stattfindet, so lassen die Debatten der letzten Jahre über Fast Fashion, lokales Kaufen und klimafreundliche Produktion zumindest hoffen, dass das nicht so bleibt.
 


Mehr über die Geschichte der Gewerkschaft Textil-Bekleidung findet sich in dem Buch von Peter und Annette „Wir machen Stoff – Die Gewerkschaft Textil-Bekleidung 1949 – 1998“, erschienen im Transcript Verlag Bielefeld.

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