Flexibilität und die Entwicklung der Wegzeiten zur Arbeit
Pendeln zwischen Leben und Arbeit

Millionen Beschäftigte fahren für ihren Arbeitsplatz meilenweit – im wahrsten Sinne des Wortes. Sie pendeln morgens zur Arbeit und abends wieder zurück. Teilweise nehmen sie weite Strecken und lange Fahrtzeiten in Kauf.

25. September 201425. 9. 2014


Immer diese großen Augen. Erika Elert kennt diesen Blick, wenn sie erzählt, wie weit sie zur Arbeit fährt. „150 Kilometer? Jeden Tag?“ Oft spricht daraus Bewunderung, manchmal Verwunderung und hin und wieder auch Mitleid. Erika arbeitet bei Bosch in Stuttgart in der Onlinekommunikation und lebt mit ihrer Familie in Neustadt an der Weinstraße. Auch ihr Mann pendelt täglich mit dem Auto ins 45 Kilometer entfernte Wörth am Rhein. Sie sind 2 von 8,5 Millionen Pendlerinnen und Pendlern, die täglich eine Stunde oder mehr zwischen ihrem Arbeitsplatz und zu Hause unterwegs sind.

Millionen Beschäftigte fahren für ihren Arbeitsplatz meilenweit – im wahrsten Sinne des Wortes. Und nicht nur das: Sie arbeiten im Zug und von zu Hause oder rufen von unterwegs Kunden an. Häufig Arbeitszeit, die nicht erfasst wird, die sie ihrem Arbeitgeber noch oben drauf geben. Flexibilität ist in vielen Unternehmen eine Einbahnstraße, die nur von den Beschäftigten befahren wird. Arbeitnehmer wünschen sich hier deutlich mehr Gegenverkehr. Vier von fünf Beschäftigten akzeptieren flexible Arbeitszeiten, wünschen sich aber auch Flexibilität, die ihren Interessen entspricht. Sie wollen nicht immer Teilzeit arbeiten, aber mehr selbst über ihre Zeit bestimmen. Vor allem Pendler wie Erika. Sie und ihr Mann wollen beruflich vorankommen, einen Arbeitsplatz, der zu ihren Fähigkeiten passt, und sie wollen miterleben, wie ihre Tochter heranwächst. Zwei berufliche Laufbahnen, ein gemeinsames Leben: Das finden Paare selten an einem Ort.


Leben in der Mitte

Als Erika ihren Mann kennenlernte, arbeitete sie bereits in Stuttgart und er in Wörth. Sie zogen nach Mannheim, irgendwie in die Mitte. Nach der Geburt ihrer Tochter zogen sie nach Neustadt an der Weinstraße, wo Erikas Eltern leben. Die 39-Jährige wollte Vollzeit arbeiten. Ohne Sicherheitsnetz ging das nicht. Wenn es bei Erika mal länger dauert, sie im Zug festsitzt oder ihr Mann im Stau steckt, holen die Großeltern die Enkelin von der Kita ab. Teilzeitstellen gibt es nicht überall. „Ich möchte nicht irgendeine Arbeit“, sagt die 39-Jährige. „Ich möchte die Arbeit machen, die mich erfüllt und zufrieden macht.“ Dafür nimmt sie einiges auf sich.

Nicht nur sie. Mehr als 60 Prozent der Beschäftigten fahren auf dem Weg zur Arbeit über eine Gemeindegrenze. Während die Zahl der Berufstätigen mit einem Arbeitsweg unter 10 Minuten in den vergangenen 20 Jahren um gut 4 Prozent sank, hat sich die Zahl derer, die bis zu einer Stunde unterwegs sind, um 29 Prozent erhöht und die mit mehr als einer Stunde um 20 Prozent. Der häufigste Grund, warum Menschen pendeln, ist noch immer das fehlende Arbeitsplatzangebot am Wohnort. Zudem steigt die Zahl der befristeten Verträge und die Verkehrsverbindungen haben sich in den letzten Jahren verbessert. Wer zieht schon für einen Zweijahresvertrag um, wenn er pendeln kann. Ein weiterer Grund, der immer wichtiger wird: die Berufstätigkeit beider Ehepartner. Pendeln ist ihr Ventil, um die hohen Flexibilitätsanforderungen der Arbeitswelt mit dem Bedürfnis der Familie nach Beständigkeit zu verbinden. Ihr Leben hat einen festen Ort, von dem sie tagsüber ausschwärmen, um zu arbeiten.

Gesund ist das nicht. Auch für Pendler hat der Tag nur 24 Stunden, in die sie mehr hineinpacken müssen als Nichtpendler. Da bei Pendlern die Zeit, die durch Arbeit gebunden ist, zwischen 12 und 14 Stunden liegt, bleibt ihnen am Ende des Tages auch weniger Zeit, sich zu erholen oder Sport zu treiben. Verspätet sich der Zug oder stecken sie im Stau, steigen Blutdruck und Puls. Vor allem, wenn sie unter Druck stehen, pünktlich an der Arbeit oder bei einer Sitzung sein zu müssen. Dennoch: Es gibt glücklichere und weniger glückliche Pendler. Das hängt auch davon ab, ob sie es sich selbst ausgesucht haben oder nicht,

Christin Aspeleiter hat es sich nicht ausgesucht, das tägliche Pendeln, es hat sich so ergeben. Geplant hatte sie es anders.Vor eineinhalb Jahren, da hat sie gehofft, sie werde in Zukunft nicht mehr weit pendeln müssen. Deshalb hatte sie sich in der Nähe beworben, in Leipzig, bei einem Logistik-Dienstleister, in der Personalabteilung. „Für die Stelle habe ich eine Absage bekommen“, sagt sie, „aber eine Woche später rief man mich an und bot mir Glauchau an. Das ist natürlich sehr schön.“Aber es ist auch kompliziert. Denn: Glauchau ist von Borna, ihrem Wohnort, knapp 60 Kilometer entfernt.


Jeder Morgen ist durchgetaktet

„Das hört sich erst nicht wahnsinnig viel an“, sagt Christin Aspeleiter, „aber wenn man die Strecke täglich mit dem Auto zurücklegt, ist das schon anstrengend. “Der Stress beginnt ja nicht erst auf der Fahrt. Er beginnt viel früher. Umgenau zu sein: morgens um 5.45 Uhr. Da klingelt ihrWecker – und ab dann sind die Minuten gezählt, ist der Morgen durchgetaktet: Bad, Anziehen, Kaffee in Thermobecher, Jacke schnappen, raus zum Wagen, Motor an, los. Wenn alles glattläuft, braucht Christin Aspeleiter eine knappe Stunde auf der Bundestraße 93, aber es läuft nicht immer alles glatt: Dann bremsen Traktoren den Verkehr, dann ist die Straße rutschig oder nass, dann gab es irgendwo vorne einen Unfall – und Christin kommt doch wieder später ins Büro. „Das ist aber nicht so schlimm, weil ich Gleitzeit habe“, sagt sie. Und weil sie eine Arbeit gefunden hat, die ihr Spaß macht. Schließlich möchte sie nicht irgendwas machen. Sie will eine Arbeit, bei der sie sich weiterentwickeln kann, und die gibt es eben nicht überall. Also fährt sie.

Nur abends ärgert sie sich schon mal über Verzögerungen. Denn das geht meist von ihrer ohnehin knappen Freizeit ab. „Wenn man kaum Zeit findet für die Dinge, die einem am Herzen liegen, ist das ein Problem“, sagt Christin Aspeleiter. Etwa für Sport, Tischtennis. Christin spielt im Verein, früher trainierte sie dreimal die Woche, traf Freunde. „Heute ist es oft so, dass ich nicht rechtzeitig zum Training daheim bin. Manchmal gibt es Wochen, da bewege ich mich zu wenig. Das spüre ich dann körperlich.“

Das kennt auch Erika Elert. Fünf Mal pro Woche nach Stuttgart und zurück, da blieb keine Zeit mehr für Sport. Abends war sie immer zu müde, um noch etwas mit ihrer Tochter zu machen. Die Lage hat sich entspannt, seit es bei Bosch eine flexible Arbeitskultur gibt. Egal wo Erika gerade arbeitet, ihre Arbeitszeituhr läuft. Etwa als die Bahn streikte und Erika zwei Stunden im Zug festsaß. Sie holte ihren Rechner raus, erledigte ihre Ablage und trug die zwei Stunden auf ihrem Arbeitszeitkonto ein.

Zwei Tage pro Woche arbeitet sie jetzt von zu Hause. Zwei Tage, an denen sie morgens mit ihrer Tochter frühstücken, sie zur Kita bringen, wieder abholen kann und trotzdem ihr volles Tagespensum schafft. Davon profitiert nicht nur Erika. Sie arbeitet mit Kollegen in China, den USA und Europa. Wegen der unterschiedlichen Zeitzonen ist es schwierig, an einem Arbeitstag alle zu erreichen. Wenn sie zu Hause arbeitet, ruft sie morgens um sechs schon mal in China an. Aber nur zu Hause arbeiten möchte sie nicht. Erika hat sich zwischen Arbeit und Privatleben gut eingependelt, auch weil es die Regelung zum mobilen Arbeiten gibt, die der Gesamtbetriebsrat mit dem Unternehmen vereinbart hat.


Nicht jahrelang pendeln

Christin Aspeleiter ist jetzt 26. Sie kann sich nicht vorstellen, noch jahrelang zu pendeln. Schon gar nicht, wenn sie einmal Kinder hat. Und Kinder möchte Christin. Nicht gleich, eher in drei, vier Jahren. Und dann? „Dann muss sich was tun“, sagt Christin Aspeleiter. Sie hofft, dass ihr Arbeitgeber dann auf sie zukommt, dass er ihr ein Angebot macht. Ob Teilzeit oder Vollzeit, das weiß sie nicht genau. „Am besten wäre es, wenn ich Vollzeit arbeiten und den Arbeitsweg verkürzen könnte“, sagt Christin Aspeleiter. „Sonst bleibt einfach zu wenig Zeit zum Leben.“

Denn mobiles Arbeiten ist nicht immer eine Lösung. Autopendler wie Christin können Arbeit nicht unterwegs erledigen und nicht jeder kann von zu Hause arbeiten. Erika Elert sieht das bei ihrem Mann. Er arbeitet in der Logistik im Zwei-Schicht-Betrieb. Das hat Vorteile. Wenn die Schicht vorbei ist, ist Schluss. Aber er kann seine Arbeit nun mal nicht mit nach Hause nehmen. Und selbst dort, wo mobiles Arbeiten auf dem Papier steht, muss es gelebt werden. Dafür braucht es Vorgesetzte, die das mit machen.

Erika Elert hat solche Vorgesetzte, aber sie weiß: „Auch im 21. Jahrhundert gibt es Chefs, die ihre Schäfchen jeden Morgen zählen wollen. Viele denken immer noch, nur wer im Büro sitzt, arbeitet.“ Wissenschaftler stellen fest, dass die meisten Arbeitgeber selbst weit weniger flexibel sind, als sie es von ihren Beschäftigten erwarten.

Die Flexibilität von Familien hat Grenzen. Wenn Arbeitgeber in Zukunft qualifizierte Fachkräfte bekommen wollen, müssen sie flexibler werden. Ein bisschen mehr Kinderbetreuung reicht nicht. Beschäftigte wollen nicht ihre Familie wegorganisieren, um ständig zur Verfügung zu stehen. Vor allem Frauen arbeiten auch deshalb häufig unterhalb ihrer Qualifikation – bei Frauen mit Berufsabschluss jede Vierte, bei Hochschulabsolventinnen fast jede Fünfte. Zeit, dass sich was bewegt, bei Arbeitszeitmodellen und in den Köpfen vieler Führungskräfte.

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