Am Ende der Kräfte

Stetiger Druck, unsichere Aussichten: In der Pandemie wachsen psychische Belastungen, viele Beschäftigte fühlen sich erschöpft. Beim Anlagenbauer SMS in Hilchenbach versucht der Betriebsrat gegenzusteuern – und ist erfolgreich.

1. Mai 20211. 5. 2021
Jan Chaberny


Es ist ein bisschen wie bei einer Waage, sagt Vanessa Kruse. Eine Waage, bei der auf die eine Waagschale stetig neue Steine gelegt werden: Jeder Stein für sich genommen wiegt nicht viel. Alle Steine zusammen aber türmen sich zu einem gewaltigen Berg auf – der die Waage plötzlich und unumkehrbar aus dem Gleichgewicht bringt. „Ich spüre, dass sich die Steine türmen“, sagt Vanessa Kruse. „Die Belastungen nehmen zu.“

Da ist, als erster Stein, die Arbeitssituation. Die 26-Jährige arbeitet im Servicebereich bei der SMS Group am Standort Hilchenbach, einem Anlagenbauer für die Stahlindustrie. Kruse arbeitet im Vertrieb, sie ist Ansprechpartnerin für die Kunden in Skandinavien. Dazu kümmert sie sich um die Abwicklung laufender Projekte. „Die Arbeit macht mir Spaß. Aber es ist nicht leicht, i­­­­n Kurzarbeit zu stecken.“ Zwei Tage pro Woche arbeitet Vanessa Kruse derzeit im Büro. Manchmal reicht die Zeit nicht, um alles fertigzubekommen. „Dann wächst der Druck. Ich kenne einige, die Arbeit mit nach Hause nehmen.“

Vanessa Kruse nimmt keine Arbeit mit nach Hause. Sie möchte, das ist der zweite Stein, nicht im Homeoffice arbeiten, auch wenn ihr der Arbeitgeber das anbietet. „Ich vermisse im Homeoffice meine Kollegen. Mir fehlt Struktur“, sagt sie. „Das sind Dinge, die mich beschweren. Ich muss dafür sorgen, dass die jetzige Situation mich nicht überlastet.“

An diesem Punkt nun kommt Stephan Klenzmann ins Spiel. Er ist 45 Jahre alt. Seit 1991 arbeitet er im Unternehmen. Seit 2009 ist er freigestellter Betriebsrat. Seit mittlerweile zehn Jahren kümmert sich Klenzmann um Arbeits- und Gesundheitsschutz. Er sagt: „Das, was Vanessa sagt, verstehe ich gut. Der Punkt ist nur: Sie ist nicht allein dafür verantwortlich, darauf zu achten, dass psychische Belastungen nicht überhandnehmen. Es ist die Pflicht des Arbeitgebers, dafür zu sorgen, dass dies nicht geschieht. Und als Betriebsrat ist es unsere Aufgabe, darauf zu dringen, dass Belastungen gesenkt werden. Das tun wir.“


Belastungen steigen. Gerade in der Pandemie.

Es ist dringend geboten. Denn die psychischen Belastungen, denen Beschäftigte während ihrer Arbeit ausgesetzt sind, nehmen zu. Gerade in der Pandemie. In einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung gaben 40 Prozent der Erwerbstätigen an, ihre Situation als „stark belastend“ oder „äußerst belastend“ wahrzunehmen. Auch die Krankenkassen registrieren steigende Belastungen. So nimmt die Zahl der Burn-out-Fälle zwar nicht zu. Dafür allerdings die Länge der Fehlzeiten. Burn-out-Patienten der AOK waren 2020 durchschnittlich 24 Tage krankgeschrieben – ein Plus von neun Prozent gegenüber dem Vorjahr.

Stephan Klenzmann braucht keine wissenschaftlichen Studien. Er sieht, was bei ihm im Betrieb geschieht. „Die Belastungen der Kolleginnen und Kollegen sind während der Pandemie nochmals gestiegen. Wir müssen dringend wirksame Maßnahmen verankern, um vor allem Stressfaktoren wirksam zu reduzieren“, sagt der 45-Jährige. „Unser Mittel der Wahl ist hier die Gefährdungsbeurteilung. Unser Ziel ist es, Belastungsquellen für jeden einzelnen Arbeitsplatz aufzuspüren, diese zu dokumentieren und gemeinsam mit dem Arbeitgeber mit Maßnahmen nach dem TOP-Prinzip zu reduzieren. Wir schauen also immer zuerst, welche technischen und organisatorischen Maßnahmen umgesetzt werden können, bevor wir persönliche Schutzmaßnahmen festlegen.“

Bis zu diesem Ziel ist es noch ein weiter Weg. Aufgebrochen aber sind sie bereits: „Wir haben im Frühjahr des Jahres 2019 den Prozess mit einer Informationsveranstaltung gestartet.“ Auf einer Betriebsversammlung hat der Betriebsrat einen Fragebogen vorgestellt, mit dem psychische Belastungen sichtbar gemacht und detailliert vermessen werden sollten. „Wir haben uns für ein dialogorientiertes Verfahren zur Ermittlung und Beurteilung von Gefährdungen entschieden“, sagt Stephan Klenzmann. „Uns war es wichtig, dass unsere Analyse die Arbeitsinhalte und Arbeitsorganisation genauso in den Blick nimmt wie beispielsweise Fragen nach der Qualität der Mitarbeiterführung.“ Im März 2020, als Corona nach Deutschland kam, werteten Klenzmann und sein Team gerade die Gefährdungen aus, die am Standort mit seinen knapp 2000 Beschäftigten wirken. „15 Seiten umfasste der Fragebogen insgesamt. Die Antworten gaben einen tiefen Einblick, sie spürten viele Belastungsquellen auf.“ Im indirekten Bereich, in dem mehr als zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten, war eine hohe Lärmbelästigung ein Hauptthema. „Andererseits haben viele Kolleginnen und Kollegen von wachsendem Arbeitsdruck berichtet. Sie berichteten, dass sie für ihre Aufgaben immer weniger Zeit haben und dass die Aufgaben immer mehr werden.“ Lärm zu reduzieren, das war nicht kompliziert.

„Wir wussten, dass wir die Großraumbüros umgestalten mussten. Wir haben dann unter anderem Raumteiler aufgestellt, Stellwände besorgt und testen Schallabsorber in den Büros.“

Komplizierter war es, Maßnahmen zu entwickeln, die wirksam anderen Stress reduzieren. Klenzmann und sein Team sind die Fragebögen durchgegangen. Die Auswertung hat gezeigt, dass Stressfaktoren aus vielen verschiedenen Quellen stammen und sich gegenseitig verstärken: „Viele Kolleginnen und Kollegen leiden unter mangelndem Informationsfluss. Andere fühlen sich nicht wertgeschätzt. Wieder andere berichten davon, dass sie schlicht und einfach zu viele Aufgaben auf den Tisch bekommen.“


Maßnahmen umsetzen und Wirksamkeit prüfen

Was man tun kann? „Darauf“, sagt Stephan Klenzmann, „gibt es keine einfache Antwort.“ „Man muss mit einem Bündel von aufeinander aufbauenden Maßnahmen reagieren.“ Bei SMS hat der Betriebsrat zuerst eine Diskussion über gutes Führungsverhalten angestoßen. Klenzmann und sein Team haben dafür gesorgt, dass es in jeder Abteilung einen guten Informationsfluss zwischen Führungskraft und Beschäftigten gibt, wöchentliche Besprechungszeiten.

Vanessa Kruse begrüßt das. „Manchmal entsteht Stress, weil nicht klar kommuniziert wird. Es ist gut, dass jetzt ein erster Schritt getan ist.“ Das sieht Stephan Klenzmann genauso. „Wir wissen, dass viel zu tun ist. Es geht ja nicht nur darum, Maßnahmen zu ergreifen. Es geht auch darum, diese fortwährend auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.“

In Hilchenbach werden sie genau das tun. Sie werden weiter Maßnahmen umsetzen, die die Belastungen der Beschäftigten reduzieren. Und sie werden anschließend überprüfen, ob diese Maßnahmen auch tatsächlich wirken. „Wir gehen unseren Weg“, sagt Stephan Klenzmann. „Wir kommen gut voran.“

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