„Wir können niemanden fallen lassen“

Bericht aus Bezirk Nordrhein-WestfalenIn Zeiten der Pandemie ändert sich die Arbeit und das Leben. Unter erschwerten Bedingungen halten Beschäftigte in den Betrieben die Produktion in Gang, viele machen Home-office, viele auch in Kurzarbeit. Die Betriebsräte der IG Metall NRW sind gefragt wie nie. Ein Blick in nordrhein-westfälische Betriebe.


Für die Berufsschule lernen? Geht auch von zu Hause. „Wir haben einen Garten“, sagt Benedikt Rohrmann (16), „bei dem schönen Wetter setze ich mich dort hin, das ist optimal.“ Von seinem Arbeitgeber, dem Automobilzulieferer Gedia in Attendorn, hat er einen mobilen Rechner gestellt bekommen. Benedikt lernt Werkzeugmechaniker im ersten Ausbildungsjahr, und seine Aufgaben kommen per E-Mail von der Berufsschule. Außerdem veranstaltet der Werkslehrer Onlineseminare – per Video schaltet er die Auszubildenden zusammen und unterrichtet sie. Zwei Mal die Woche bleibt Benedikt zu Hause, drei Mal die Woche ist er im Betrieb. „In der Lehrwerkstatt müssen wir strikt auf Abstand achten und Mundschutz tragen.“

Ausbildung in Zeiten von Corona funktioniert anders, erklärt Ausbilder Oliver Bödefeld. Als es losging mit der Pandemie, „haben wir uns überlegt, wie wir den Ausbildungsbetrieb aufrechterhalten“. Die Auszubildenden einfach nach Hause schicken, so wie das viele Unternehmen gemacht haben, „wollten wir nicht“. Schließlich, sagt er, „haben wir einen Ausbildungsauftrag“.

Gemeinsam mit dem Betriebsrat entwickelten die Ausbilder ein rollierendes System. Die Auszubildenden wurden nach Ausbildungsjahren in drei Gruppen von jeweils um die 20 Köpfe eingeteilt: Jede Gruppe ist an unterschiedlichen Tagen in der Lehrwerkstatt, an anderen Tagen in den Abteilungen des Betriebs – oder eben zu Hause, im Home-Work. So kann Abstand gehalten werden – und die Ausbildung trotz Corona-Ausnahmezustand fortgesetzt werden.

Für den Betriebsratsvorsitzenden Thorsten Wottrich ist das ein vernünftiges Modell. „Wir können doch die jungen Leute jetzt nicht fallenlassen“, sagt er. „Die machen eine praktische Ausbildung, die können das nicht einfach alles zu Hause lernen.“ Die Auszubildenden jedenfalls sind begeistert. Langeweile kommt nicht auf, sagt Lea Siepe (19) Auszubildende zur Industriekauffrau. „Ich finde es abwechslungsreich.“ Ihr Kollege Noah Paolini (17) gibt ihr Recht, auch wenn ihm, wie allen anderen jungen Leuten, „der Kontakt zu den Freunden fehlt.“ Immerhin: Es gibt noch den sozialen Kontakt in den Auszubildenden-Gruppen.

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Fotos (3): Stephen Petrat
Auf Abstand: Bei Gedia in Attendorn geht die Ausbildung weiter. Die Auszubildenden wurden in Gruppen aufgeteilt und nutzen die Lehrwerkstatt abwechselnd – damit genügend Platz bleibt. Aufgaben für die Berufsschule erledigt Benedikt Rohrmann (16) im heimischen Garten. Lea Siepe (19) kommuniziert online mit ihrem Ausbilder.
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Foto: Thomas Range
„Wir berieten uns täglich.“: Stephan Klenzmann ist Betriebsrat bei der SMS Group.
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Foto: Thomas Range
Leerer Saal, voller Monitor: In der Bildungsstätte der IG Metall NRW in Sprockhövel, wo sich sonst zum Beispiel Tarifkommissionen treffen, herrscht Leere. Stattdessen kommuniziert man über Video.

Es war noch Winter in Deutschland, Mitte Januar, und die Bundesliga hatte ihre Rückrunde noch gar nicht begonnen, da wusste Stephan Klenzmann bereits: Es kommt etwas auf uns zu.

Klenzmann ist Sprecher des Arbeitskreises für Arbeits- und Gesundheitsschutz der IG Metall – ein Gremium, in dem sich die Fachleute unter den Betriebsräten der IG Metall austauschen. „Ich erinnere mich gut“, erzählt Klenzmann, „wir waren gerade auf einer Klausur von Arbeitsschützern der IG Metall, als Corona aufpoppte.“ Es gab schlechte Nachrichten aus China. Klenzmann ist Betriebsrat bei der SMS Group im siegerländischen Hilchenbach, das Unternehmen baut Stahlwerke in aller Welt. „Wir hatten Leute in Wuhan und mussten die zurückholen.“

Jeden Morgen schlich sich Klenzmann aus der Klausur davon, per Video wurde er zur Sitzung des Krisenteams seines Unternehmens hinzugeschaltet. Die Leitende Sicherheitskraft, die Personalabteilung, Führungskräfte der betroffenen Abteilungen, der Betriebsrat, die Öffentlichkeitsarbeit – das Team aus sechs bis acht Leuten beratschlagte sich täglich, anfangs für eine halbe Stunde, dann für eine Stunde. Als die Situation sich beruhigte, traf sich das Team noch zwei Mal wöchentlich. „Als es dann in Italien losging, wieder täglich“, erzählt Klenzmann. Die Krisenteam-Mitglieder tragen Informationen zusammen, machen Vorschläge und legen der Geschäftsführung eine farblich markierte Tabelle vor. Die muss nur noch entscheiden.

„Uns kam zugute, dass wir Erfahrungen mit internationalen Krisen haben“, erzählt Klenzmann. Während des Reaktorunglücks im japanischen Fukushima oder bei dem großen Erdbeben in China hatte sich die Einrichtung eines Krisenteams bewährt. Auch jetzt, in der Corona-Krise, konnte SMS so schnellere und bessere Entscheidungen treffen. Das Unternehmen holte Monteure zurück und schickte sie 14 Tage in Quarantäne, wer im österreichischen Ischgl im Skiurlaub war, blieb ebenfalls zu Hause. „Wir waren immer zwei Schritte voraus“, sagt Klenzmann. Abstandslinien auf dem Boden oder Plexiglasscheiben gab es bei SMS schon einige Zeit, bevor sie in den Supermärkten üblich wurden.

Mittlerweile arbeiten in der Spitze 1200 von rund 4500 Beschäftigten an den deutschen Standorten im Homeoffice. Die Produktion wurde in zwei Schichten aufgeteilt. Die Frühschicht endet um 14 Uhr, die Spätschicht beginnt erst um 14.30 Uhr, damit sich die Schichtkolonnen nicht begegnen, Übergabezeiten wurden gestrichen.

Das Krisenmanagement folgt einem Plan, der sich im Arbeits- und Gesundheitsschutz bewährt hat – dem (S)top-Prinzip. Das Kürzel steht für die Anfangsbuchstaben von: Substitution, technisch, organisatorisch und persönlich. In dieser Reihenfolge sollen Maßnahmen ergriffen werden, damit sie möglichst viel Sinn ergeben. Substitution heißt: Eine Gefahr wird eliminiert – bei Corona schlecht möglich; technisch – das sind die Plexiglasscheiben; organisatorisch – die Arbeit in Schichten. Erst dann kommen persönliche Maßnahmen wie Schutzausrüstung, etwa Masken.

„Viele Arbeitgeber setzen allerdings stark auf persönliche Maßnahmen, gerade die kleineren“, sagt Sicherheits-Experte Klenzmann. Dabei haben solche Anordnungen Nachteile. „Wo auf das persönliche Verhalten von Menschen gesetzt wird, passieren natürlich auch Fehler“, erläutert Klenzmann. Masken zum Beispiel kann man falsch auf- und absetzen. Und das Tragen einer Schutzausrüstung kann auf Dauer belastend sein. Deshalb sei es so wichtig, in der richtigen Reihenfolge die möglichst effizientesten Dinge zu tun.

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In Zeiten der Krise sind Betriebsräte gefragt wie nie.

Innerhalb von Tagen, manchmal von Stunden reagierten sie und schlossen zum Beispiel Pandemie-Betriebsvereinbarungen ab.

Eine Umfrage der IG Metall NRW unter Betriebsräten ergab: In rund 94 Prozent der Betriebe haben sich Geschäftsführung und Betriebsrat über den Umgang mit der Corona-Krise verständigt. „In dieser Krise zeigt sich einmal mehr, wie wichtig Mitbestimmung ist“, sagt Knut Giesler, Bezirksleiter der IG Metall NRW. „Ich bin sehr stolz auf das, was unsere Betriebsräte und Vertrauensleute gerade leisten.“

Thema Nummer eins in den Betrieben ist die Kurzarbeit. Beispiel: Allein in der Geschäftsstelle Köln-Leverkusen der IG Metall gingen bis Ostern 36 Betriebe in Kurzarbeit, mehr als 21000 Beschäftigte waren betroffen. Laut der IG Metall-Umfrage wurde bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe in rund 40 Prozent der Unternehmen in NRW Kurzarbeit angewendet. In einer ganzen Reihe von Betrieben konnte die IG Metall Regelungen verabreden, mit denen das Kurzarbeitergeld aufgestockt wird. „Wir haben dazu den neuen Tarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie genutzt“, erzählt Ibrahim Koç, Betriebsratsvorsitzender beim Stahlverarbeiter Steeltec in Düsseldorf. Die IG Metall NRW hatte mit Ausbruch der Krise einen Solidartarifvertrag mit den Arbeitgebern abgeschlossen. Den darin verabredeten Solidarbeitrag nutzte der Betriebsrat, um das Kurzarbeitergeld auf 73 Prozent beziehungsweise auf 80 Prozent (mit Kind) des Nettoentgelts anzugeben. „Das wird bei uns im Betrieb sehr positiv aufgenommen“, sagt der Betriebsrat.

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