Deutschland ist ein Einwanderungsland
„Wir müssen uns auf Vielfalt in der Gesellschaft einstellen“

Seit Jahrzehnten ist Deutschland ein Einwanderungsland. Die Migranten stellen für die Gesellschaft und die Betriebe eine Bereicherung dar. Der Migrationsexperte Mark Terkessidis distanziert sich nun von der Forderung nach Integration. Auf igmetall.de erklärt er warum.

28. November 201128. 11. 2011


Vor 50 Jahren haben die Türkei und Deutschland das Anwerbeabkommen abgeschlossen. Wie hat die Zuwanderung das Land und die Gesellschaft verändert?
Das ist eine Frage, da brauche ich eigentlich zwei Tage, um sie zu beantworten (lacht). Es gibt seit den 50er-Jahren verschieden Prozesse, die die einzelnen Nationalstaaten „welthaltiger“ gemacht haben, als sie das mal waren. Da sind die Medien, da ist die Migration, da ist die Internationalisierung zusammen mit der Europäischen Union. Das alles hat dazu geführt, dass sich das starre Gebilde „Nationalstaat“, das in Deutschland in den 50er-Jahren noch funktioniert hat, an allen Ecken und Enden aufgelöst hat. Es existiert zwar noch, aber es ist viel mehr „Welt“ darin, und dazu hat die Migration deutlich beigetragen.

Was stört sie daran, wie hierzulande mit dem Thema Migration umgegangen wird?
Mich stört, dass das Ganze unter dem Aspekt der Integration gesehen wird. Ich glaube, dass der Begriff der Integration der momentanen Lage nicht mehr gerecht wird. Es ist ein Begriff, der immer davon ausgeht, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die dazu gekommen sind. Diese Leute haben bestimmte „Defizite“ und die muss man ausgleichen.

Dabei reden wir davon, dass in einer Stadt wie Nürnberg mittlerweile 66 Prozent der unter Sechsjährigen Migrationshintergrund haben. In allen deutschen Städten sind die unter Sechsjährigen mit Migrationshintergrund in der Mehrheit. Das heißt, aufgrund der Internationalisierung, aber auch aufgrund der genannten demografischen Veränderung, lässt sich diese „Norm“ nicht mehr herstellen, an der Integration immer gemessen wird. Wir müssen uns darauf einstellen, dass es Vielfalt in der Gesellschaft gibt. Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir es mit Individuen zu tun haben, die sehr unterschiedlich sind, die unterschiedliche Hintergründe und unterschiedliche Voraussetzungen haben.

Sie plädieren also dafür, dass wir von dem Integrationsbegriff wegkommen?
Ja, weil man dabei immer davon ausgeht, dass da irgendwer sein müsste, der sich irgendwo reinintegriert. Aber in was sollen sie sich denn integrieren? Es ist doch so, dass der Begriff „Deutsch sein“ mittlerweile vollkommen unklar ist. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass die Leute recht klischeehafte Begriffe von „Deutsch sein“ haben, in denen sie ihre eigenen Alltagserfahrungen gar nicht mehr unterbringen können. Man hält den Einwanderern einen Begriff von „Deutsch sein“ vor, der an der Realität vorbei geht. Da ist es doch viel sinnvoller zu sagen, es gibt eine neue Bevölkerung, und wir verändern uns alle gemeinsam in Richtung Zukunft, als zu sagen, bestimmte Leute müssen sich integrieren.

Früher war der Begriff „Multikulturelle Gesellschaft“ in aller Munde. Sie ziehen das Konzept „Interkultur“ vor. Was bedeutet das?
Ich fand den Begriff des Multikulturalismus, zu dem Zeitpunkt wo er eingeführt wurde, nicht gut, weil ich finde, dass er sich sehr statisch auf ethnischen Hintergrund bezieht. Da gab es die Vorstellung, wir hängen eine deutsche Fahne, eine türkische, eine griechische und eine russische nebeneinander, und das ist dann die Welt, in der wir leben. In dieser Welt möchte ich nicht leben. Ich glaube, dass es darum geht, Zukunft zu gestalten und eine Art Gemeinschaftlichkeit für die Zukunft zu finden. Ich möchte gerne ein dynamisches Konzept haben.

Interkultur ist ein dynamisches Konzept, weil es darauf abzielt, etwas zu verändern. Teil des Konzeptes der Interkultur ist es, nicht mehr auf Gruppen und deren Defizite zu schauen, und zu versuchen diese Defizite zu beseitigen. Vielmehr schauen wir auf die Individuen, die sehr unterschiedlich sind, und wir gestalten die Institutionen so um, dass sie diesen Individuen gerecht werden. Der Blick richtet sich weg von den Gruppen mit den angeblichen Defiziten, hin auf die Institutionen und deren Veränderung. Was aber auch gleichzeitig bedeutet, dass es ein Innovationsanstoß für diese Institutionen braucht, um sich der Realität besser anpassen zu können. Das ist die Idee bei Interkultur.

In Ihrem Buch „Interkultur“ schreiben Sie, dass es so etwas wie einen institutionellen Rassismus gibt. Wie muss man das verstehen?
Rassismus ist in Deutschland sehr häufig begriffen worden als Gewalt und Neonazismus. Darüber hinaus hat man sich mit diesem Feld gar nicht beschäftigen wollen. Für alles andere hat man dann Sonderkonstruktionen gefunden, wie Ausländerfeindlichkeit. Nun geht es längst nicht mehr um Ausländer, sondern darum, wie Ausländer hergestellt worden sind – wie Fremde hergestellt worden sind.

Die Leute sind ja nicht nach Deutschland gekommen weil sie alle Jobs ausfüllen sollten, sondern weil sie bestimmte Jobs ausfüllen sollten. Und die Eigenschaften dieser Jobs verbinden sich irgendwann mit den Leuten selbst. Es gab ja auch mal die Idee, dass es „Kanaken-Jobs“ oder „Ausländer-Jobs“ gibt, und es war klar, das sind die schmutzigen Jobs. Zusätzlich wurde das eben begleitet durch die lange Exklusivität der Staatsangehörigkeit, wo diese Menschen, die „Ausländer-Jobs“ gemacht haben, auch keine Rechte hatten, mitzubestimmen.

Und da sind wir auch schon auf einer Ebene, wo es institutionelle Diskriminierung gibt. Wo eine regelmäßige Trennung zwischen „wir“ und „ihnen“ eingeführt wird, die bestimmte Leute auf Dauer in eine Situation der Benachteiligung bringt. Und das überträgt sich dann auch auf den Alltag, wo es weniger darum geht, dass Leute gewalttätig angegriffen werden. Das ist auch der Fall und das ist auch sehr schrecklich. Aber die meisten Leute haben eher Erfahrungen damit, dass sie beispielsweise aufgrund ihres türkischen Namens eine wesentlich schlechtere Chance haben einen Ausbildungsplatz oder einen Job zu bekommen.

Untersuchungen zeigen, dass wenn man die Bewerbungen anonymisiert, die Personen mit türkischem Hintergrund deutlich öfter zu Job-Gesprächen eingeladen würden. Ich glaube es ist sinnvoller zu sagen, es gibt bestimmte strukturelle Hürden in der Gesellschaft, als das zum moralischen Problem zu erklären. Es geht nicht darum aufzuschreien und mit dem Finger auf die bösen Rassisten in der Gesellschaft zu zeigen. Nein: Es gibt Routinen, die beispielsweise dazu führen, dass Leute die im Personalbüro sitzen sich entscheiden, Menschen mit türkischer Herkunft nicht einzustellen. Diese Routinen würde ich als institutionelle Diskriminierung bezeichnen, und die gilt es abzubauen. Und zwar mit Regelungen, die dazu führen, dass das verhindert wird.

Was könnte man machen, um der Vielfalt der Kulturen in der Gesellschaft und den Betrieben gerecht zu werden?
Noch mal: Es geht hier nicht um verschiedene Kulturen, sondern um verschiedene Individuen. Bei Interkultur poppt natürlich die Idee auf, es gehe hier um Kulturen. Dabei ist es mittlerweile doch ziemlich unklar geworden, was diese unterschiedlichen Kulturen sind. Die Leute lassen sich heute in einer ethnischen Identität nicht mehr ohne weiteres unterbringen, sondern die haben doch eine wesentlich komplexere Vorstellung von sich selbst.

Wenn wir über die Betriebe oder die Institutionen reden, ist das, was man verankern muss, dass man die Leute nicht den ganzen Tag auf ihre Herkunft reduziert, sondern dass man ihnen als Individuen begegnet. Firmen, vor allem im englischsprachigen Raum haben Diversity-Programme eingeführt, weil sie gesehen haben, dass die Arbeitnehmerschaft viel diverser wird, als sie das früher mal waren – nämlich weg vom männlichen weißen Norm-Arbeitnehmer. Das heißt, man muss eine Atmosphäre im Betrieb herstellen, die dem auch gerecht wird. Wenn ich Beschäftigte im Betrieb habe, die die ganze Zeit diskriminiert oder auf ihre Herkunft reduziert werden, dann arbeiten diese Beschäftigten womöglich deutlich schlechter, als wenn sie sich akzeptiert fühlen. Aus eigennützigen Gründen haben Firmen angefangen diese Programme aufzulegen, um die Diskriminierung abzubauen.

Außerdem geht es beispielsweise im Verkauf oder im Marketing darum, viele verschieden Gruppen anzusprechen. Das kann aber nur dann geschehen, wenn ich die Wissensbestände der unterschiedlichen Personen, die im Betrieb sind, ausnutze, um diese Kommunikation in einem bestimmten Referenzrahmen herzustellen. Es ist allerdings sehr schwierig, das abstrakt zu formulieren, weil jede Institution und jeder Betrieb für sich selbst herausfinden muss, worum es da geht.

Man muss bei den Betrieben auch unterscheiden zwischen den großen und den kleineren. Ein Großteil der Ausbildungsplätze wird von den mittelständischen Betrieben angeboten. Hier arbeiten relativ wenig Leute mit Migrationshintergrund. Hier käme es darauf an, eine Sensibilisierung herbeizuführen, wie Diskriminierung funktioniert. Bei den größeren Unternehmen arbeiten mehr Menschen mit Migrationshintergrund. In diesen Betrieben geht es eher darum, wie die Potenziale der Beschäftigten gefördert werden.

Der Fachkräftemangel hat jedoch einiges geändert. Wenn man Beispielsweise mit dem Handwerk spricht, dann stellt man fest, dass in den letzten Jahren der Migrationshintergrund gar nicht so eine große Rolle spielt.

Welche sind die positiven Aspekte der Migration?
Es interessiert mich nicht ob es positiv oder negativ ist. Primär ist es einfach so. Wenn ich mich für die positiven oder negativen Seiten entscheiden kann, dann gibt mir das immer so das Gefühl, dass ich die Kontrolle habe darüber, was in den Städten passiert. Und das ist totaler Humbug. Tatsächlich ist es so, wie es eben ist. Wir haben in Stuttgart 40 Prozent Menschen mit Migrationshintergrund, in Heilbronn 44 Prozent, in Augsburg 40 Prozent und so weiter. Das sind Städte, von denen man das gar nicht denken würde. Und bei den Kindern stehen wir vor einem dramatischen demografischen Wandel. Im Moment ist es so, dass man auf breiter Front die Potenziale der Migrationsgesellschaft verschleudert.

Wir haben jetzt eben eine Gesellschaft, die wesentlich vielfältiger ist. Da ist viel Positives mit verbunden. Zudem haben wir heute viel mehr Möglichkeiten, als man beispielsweise in den Fünfziger Jahren gehabt hat. Aber auch eine Gesellschaft, in der man natürlich nicht mehr die Sicherheiten hat, die man damals hatte. Und nun geht es natürlich darum, wie wir die Vielfalt gestalten. So, dass einerseits die Potenziale dieser Gesellschaft ausgeschöpft werden und andererseits, wie wir die Vielfalt mit Sicherheit vereinbaren. Und das ist doch die Aufgabe: Es zu einem positiven Ergebnis zu bringen.
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