Beschäftigte bei Magna in Assamstadt & Sick in Ottendorf-Okrilla
„Klar war: Es klappt nur, wenn alle mitmachen.“

Magna Assamstadt und Sick in Ottendorf-Okrilla sind Beispiele was starke Betriebsräte und viele Mitglieder erreichen können: gute Arbeitsbedingungen und Mitbestimmung. Auch dank der Erschließungsarbeit der IG Metall.


Am Abend davor war sie sich plötzlich unsicher. Vielleicht, dachte sie, würden die anderen doch nicht mitmachen. Vielleicht wäre sie ganz alleine, eine Einzelkämpferin, und was sollte sie dann tun? „Ich wusste, dass ich alleine nichts ausrichten kann“, sagt Sabine Maurer. „Mir war klar, dass es nur klappt, wenn alle mitmachen.“

Am nächsten Tag wusste die Betriebsratsvorsitzende von Magna in Assamstadt, dass sie es geschafft hatten. „Alle Kolleginnen und Kollegen waren draußen, keiner ist umgefallen. Der Laden stand still, kein Rädchen drehte sich mehr.“

Nahezu jede und jeder der rund 700 Beschäftigten von Magna in Assamstadt beteiligt sich am 10. Mai 2016 an dem großen Warnstreik im Rahmen des Tarifkonflikts in der Metall- und Elektroindustrie. Die Magna-Belegschaft forderte fünf Prozent mehr Geld rückwirkend ab 1. April und die Anwendung der Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie. Sie erreichte ihr Ziel: Am 24. September, nach drei Verhandlungen, lenkt der Arbeitgeber ein und unterschreibt, dem Arbeitgeberverband beizutreten und damit die Metall-Tarifverträge anzuerkennen. Als Sabine Maurer und Gerd Koch, Geschäftsführer der IG Metall Tauberbischofsheim, die Kolleginnen und Kollegen informieren, brandet Jubel auf, fließen Tränen. Es ist der Anfang einer neuen Zeitrechnung beim Automobilzulieferer im Nordosten Baden-Württembergs und das Ende eines langen Weges.


Starke Aktive, Vertrauenleute und Betriebsräte

Begonnen hat er nach den Betriebsratswahlen 2014, Geschwindigkeit aufgenommen, als Jannes Bojert mit ins Spiel kommt. Der Gewerkschafter arbeitet im Gemeinsamen Erschließungsprojekt (GEP) Baden-Württemberg. Er hilft und unterstützt vor Ort in Betrieben, wenn es darum geht, Betriebsräte aufzubauen, gewerkschaftliche Strukturen im Betrieb zu etablieren und Belegschaften so zu aktivieren, dass sie sich selbst gemeinsam und organisiert für eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen einsetzen. „Das geht nur mit starken Aktiven, Vertrauensleuten und Betriebsräten, die bereit sind, Konflikte auszutragen, die Veränderung wollen und die Bewegung hin zu mehr Beteiligung vorantreiben“, sagt der 37-Jährige.

Die aber gibt es nicht überall. Die IG Metall hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, ihre Erschließungsarbeit flächendeckend auszubauen: In den kommenden neun Jahren investiert sie über 190 Millionen Euro. Insgesamt werden 140 zusätzliche Stellen vor Ort aufgebaut. In der ganzen Republik werden Projekte durchgeführt.


Themen aufspüren

Es ist eine intensive Arbeit, eine Arbeit, für die man Mitstreiter braucht und einen langen Atem. Eine Arbeit, die auf einen Mix aus bewährten Methoden und immer neuen Herangehensweisen setzt. Vor allem ist es wichtig, ein betriebliches Thema aufzuspüren, eines, das den Kolleginnen und Kollegen auf den Nägeln brennt. Zusammen mit den Beschäftigten – und nur mit ihnen zusammen – kann dann eine Kampagne gestartet werden.

Bei Magna in Assamstadt haben sie es auf diese Weise gemacht. „Die Ausgangssituation war mau“, sagt Sabine Maurer. „Wir hatten keine Mitgliederentwicklung, keine Aktivitäten. Immer wieder hat der Betriebsrat die Geschäftsführung aufgefordert, über einen Haustarifvertrag zu verhandeln. Aber die haben uns am langen Arm verhungern lassen.“

Die Folgen spüren alle: „Die Kolleginnen und Kollegen fühlten sich ungerecht behandelt, ihr Unmut war mit Händen zu greifen.“ Nach der Betriebsratswahl 2014 wird Sabine Maurer Vorsitzende – und formuliert ein ehrgeiziges Ziel. „Wir wollten den Tarifvertrag und wir wollten für ihn kämpfen.“ Die 53-Jährige weiß, dass sie das Ziel nur zusammen mit den Beschäftigten erreichen kann. Aber ihr ist zu Beginn nicht klar, wie sie ihre Kolleginnen und Kollegen aktivieren kann.

„Kein Ding“, sagt Florian Witte, „dafür sind wir ja da.“ Florian Witte arbeitet wie Jannes Bojert als Erschließungssekretär, vor Kurzem hat er mit dem Betriebsrat vor Ort eine betriebliche Kampagne bei Sick Engineering, einem führenden Sensor-Hersteller, in Ottendorf-Okrilla, bei Dresden umgesetzt.

In Deutschland arbeiten insgesamt rund 4000 Menschen an acht Sick-Standorten; Ottendorf-Okrilla mit 250 Beschäftigten war nicht tarifgebunden. Eine große Ungerechtigkeit, so empfanden das die Kolleginnen und Kollegen, erzählt Rico Klinke, seit 2010 Betriebsratsvorsitzender am Standort. Und eine gute Ausgangssituation, um Druck auf den Arbeitgeber zu machen: Die anderen Standorte wurden von Beginn an in die Kampagne eingebunden. Hermann Spieß von der IG Metall Freiburg startete das Projekt und koordinierte als Unternehmensbetreuer die Unterstützung. „Das hat uns sehr geholfen“, sagt Florian Witte. „Dazu war es wichtig, dass wir unsere Kampagne gut vorbereitet und aufgebaut hatten.“


Beschäftigte beteiligen

Florian Witte initiiert Workshops mit dem Betriebsrat, gemeinsam erarbeiten sie einen Gesprächsleitfaden, mit dem sie die Kolleginnen und Kollegen auf einer Betriebsversammlung informierten und das persönliche Gespräch suchen – für Betriebsrat Rico Klinke ist das der Knackpunkt jeder betrieblichen Kampagne. „Es ist wichtig, die Beschäftigten über jeden Schritt zu informieren, man muss sich Zeit nehmen, Fragen beantworten, Sorgen und Ängste nehmen. Nur so kann man Erfolg haben.“ Und Erfolg hatten sie: Am fünften Verhandlungstermin, am 19. Januar 2017, unterschreibt der Arbeitgeber, dass er die Metall-Tarifverträge des Bezirkes Südbaden auch für das sächsische Werk in Ottendorf-Okrilla bei Dresden anerkennt. Seit Anfang März erfolgt die schrittweise Anpassung der Löhne und Gehälter. „Wir sind glücklich, dass uns das gelungen ist“, sagt Rico Klinke. „Es war extrem wichtig, dass die Aktiven in alle Schritte eingebunden werden.“

In Assamstadt, bei Magna, haben sie es exakt so gemacht. In einem Workshop arbeitet Jannes Bojert mit Sabine Maurer und ihren Betriebsratskollegen einen Kampagnenplan aus, aufeinander aufbauende Schritte, eine Treppe, an deren Ende der Warnstreik steht. Der Weg dahin ist mit unterschiedlichen Aktionen gepflastert: Sie legen Flyer aus, in denen sie erklären, was ein Tarifvertrag ist; sie starten auf der Betriebsversammlung eine Befragung, um die Meinung der Beschäftigten zu erfahren; sie stellen einen „Aktionstag“ auf die Beine, eine „aktive Würstchenpause“ mit geballten Informationen und bunten Plakatwänden. Sie schaffen Aufmerksamkeit, informieren und mobilisieren – vor allem suchen sie das Gespräch mit den Kolleginnen und Kollegen. Ein paar Tage vor dem Warnstreik laufen Sabine Maurer und ihre Betriebsratsmitstreiter durch die Pausenräume, sie fragen die Kolleginnen und Kollegen: „Seid ihr dabei?“ „Die Hände gingen hoch, das hat mich beruhigt“, sagt die 53-Jährige. Und trotzdem: Kurz vor dem Warnstreik ist sie plötzlich nicht sicher, ob es klappt.

Dann blickt sie in hoffnungsvolle Gesichter, sieht sie ihre Kolleginnen und Kollegen aufstehen und raus auf die Straße gehen. Gemeinsam, vereint. Da weiß Sabine Maurer, dass sie gewonnen haben.

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