Christiane Benner im Interview
„Niemand will eine Maschinenstürmerdebatte“

Das sagt Christiane Benner, zweite Vorsitzende der IG Metall, im Interview mit der „Börsenzeitung“. Sie spricht über die sozialen Verwerfungen der Digitalisierung und wie Gewerkschaften darauf reagieren müssen.

17. Mai 201617. 5. 2016


Frau Benner, die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt. Sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse, worauf die Gewerkschaften ihre Mobilisierungsmacht gründen, erodieren. Sie werden in Honorarjobs umgewandelt und von Crowdworking Plattformen neu verteilt. Wie kann die IG Metall unter diesen Umständen ihre jetzt wieder demonstrierte Schlagkraft erhalten?

Die IG Metall hat auch bei Ingenieuren und Informatikern, allgemein bei Wissensarbeitern, Studierenden und jungen Menschen viele neue Mitglieder gewonnen. Die Gewerkschaften wurden in der ersten industriellen Revolution gegründet. Jetzt sind wir schon in der vierten Revolution. Auch die werden wir sozial gestalten.

In welche Richtung wird es da gehen?

Bei aller Veränderung bleiben die menschlichen Grundbedürfnisse ja bestehen: Jeder will eine Arbeit haben, von der er leben kann, ob das nun Kopf- oder Handarbeit ist. Jeder Mensch muss seine Miete bezahlen, gründet irgendwann eine Familie. Das sind die Konstanten im Leben eines arbeitenden Menschen. Insofern beschert uns die Digitalisierung ein paar neue Möglichkeiten wie eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch flexiblere, mobile Arbeit. Allerdings, und darauf spielen Sie ja an, kann durch neue Formen digitaler Arbeit die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsverhältnisse abnehmen. Und diese sind das Rückgrat für unseren Sozialstaat, für die Arbeitswelt und letztlich auch für die demokratische Wahrnehmung von Arbeitnehmerrechten.

Wie stellen Sie sich darauf ein? Wenn sich Arbeitgeber die Mitarbeiter projektbezogen international aussuchen können via Ausschreibung auf einer Crowdworking-Plattform, haben Gewerkschaften doch das Nachsehen.

Darum kümmern wir uns schon aktuell. Die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland ist mit 43,5 Millionen Erwerbstätigen zwar hoch, aber es gibt auch schon jetzt einen Höchststand an Leiharbeit und Werkverträgen also prekärer Arbeit. Die Zahl der Solo-Selbständigen oszilliert momentan um die zwei Millionen. Es bröckelt also unter der Oberfläche. Die Digitalisierung erlaubt zudem neue Formen von Arbeitsverhältnissen wie das Crowdsourcing/-working. Das ist Arbeit, die über Internetplattformen erledigt wird. Die Arbeitswelt ist im Wandel. Gewerkschaften, Arbeitgeber und die Politik müssen sich daher Gedanken machen, wie auf den Wandel hin zu Arbeit 4.0 mit einem Sozialstaat 4.0 geantwortet wird.

Konkret: Wie wollen Sie die Arbeitgeber dazu bringen, im Zuge der Virtualisierung der Arbeit dennoch Sozialbeiträge zu zahlen? Manager und Unternehmer werden sich ja zunächst freuen, dass die Arbeitskosten sinken.

Das ist leider so. Meine Erfahrung ist, dass die sozialen Folgewirkungen nicht bedacht werden. Die neuen Internet-Arbeitsformen werden momentan in einem überwiegend von Arbeitnehmerrechten freien Raum erbracht. Die Arbeitsbedingungen werden zu einem großen Teil durch allgemeine Geschäftsbedingungen der Plattformbetreiber diktiert. Es gibt insofern keinerlei Anspruch der Clickworker auf irgendetwas darüber hinaus. Warum gilt hier kein Mindestlohn?

Wann werden Sie handeln?

Das müssen wir unverzüglich ändern, auch wenn Clickworker in Deutschland mit rund einer Million bislang nur einen kleinen Teil vom Arbeitsmarkt ausmachen. Denn das ist erst der Anfang. Inzwischen gibt es schon eine Reihe deutscher Plattformen, die Mikroaufgaben über Testing bis hin zur kompletten Softwareentwicklung anbieten. Das geht theoretisch in alle Teile unserer Wertschöpfungssysteme. Auch die Autoentwicklung wird ins Internet verlagert. Auf der Plattform Local Motors werden Komplett-Fahrzeuge entwickelt bzw. konfiguriert und auf 3-D-Druckern produziert. In Japan sollen die ersten Fahrzeuge aus dem 3-D-Drucker ab 2017 die Straßenzulassung erhalten.

Wie wollen Sie sich als Gewerkschaft hier einklinken?

Hinter den Plattformen stecken oft multinationale Unternehmen als Auftraggeber. Clickworking ist auch eine Form des Outsourcings. Wir sensibilisieren in erster Linie unsere Betriebsräte für das Thema. Denn häufig geschieht der Wandel unbemerkt. Es sind schließlich keine Maschinen mit den entsprechenden Arbeitsplätzen, die nach Osteuropa verlagert werden, was mehr Aufsehen erregt. Ich appelliere insofern an die Verantwortung der Auftraggeber, die glauben, durch die Verlagerung der Arbeiten ins Netz einfach Sozialkosten sparen zu können. In Zeiten des viel beklagten Facharbeitermangels werden sich die Plattformbetreiber aber Gedanken machen müssen, was sie ihren Clickworkern etwa an sozialer Absicherung anbieten können, damit diese überhaupt auf ihrer Plattform arbeiten.

Das mag stimmen, solange im Internet Fachleute mit Spezialkenntnissen gesucht werden. In der Breite dürften die Arbeitskosten wichtiger sein. Was schützt also die Clickworker auf den Plattformen vor einem Race to the Bottom bei der Entlohnung?

Ein Race to the Top. Die IG Metall hat inzwischen mit FairCrowd-Work.org selbst eine Plattform aufgebaut. Da können Crowdworker die Plattformen nach bestimmten Kriterien wie Entgelt, Fairness bei der Aufgabenstellung, Verlässlichkeit bei der Bezahlung sowie der Kommunikation mit den Auftraggebern bewerten. Wir wollen Transparenz herstellen in diesem Metier und damit den Wettbewerb um die klügsten Köpfe verstärken. Unsere Hoffnung ist, dass sich jene Plattformen durchsetzen, die den Clickworkern besonders gute Arbeitsbedingungen bieten.

Aber findet sich auf globaler Ebene nicht immer jemand, der seine Arbeit günstiger anbietet als der Kollege in Deutschland?

Umgekehrt wird ein Schuh draus: Warum soll jemand aus Indien seine Arbeit auf Plattformen mit den schlechtesten Bedingungen anbieten? Die Arbeitgeber bauen internationale Datenbanken mit den beruflichen Fertigkeiten der Menschen auf. Wir machen das mit den Arbeitsbedingungen und verschärfen damit international den Wettbewerb um die besten Arbeitsbedingungen.

Was soll Arbeitgeber verleiten, ihre Arbeiten nur auf hochpreisigen Plattformen anzubieten?

Sie bekommen da die besten Leute mit guten Ideen. Entweder gibt es einen Fachkräftemangel, oder es gibt ihn nicht. Wenn Leute über viel Know-how verfügen, sind sie auch ihr Geld wert. Auch wenn der Druck auf die Löhne im digitalen Bereich zunimmt und viele Arbeitgeber hier ihre Chance sehen, die Löhne noch weiter zu drücken. Ein Negativbeispiel sind einige Design-Plattformen. Pro Wettbewerb wurden dort 250 US-Dollar an Preisgeld für das Design eines Logos ausgezahlt. Bei 116 eingereichten Entwürfen macht das etwa 2 US-Dollar pro Entwurf. Das sind doch unmoralische, sittenwidrige Verhältnisse. Und dahinter stecken große profitable Unternehmen.

Das zeigt doch schon, wie die Arbeitgeber die Möglichkeiten der digitalen Arbeitswelt zu nutzen imstande sind. Was wollen Sie dieser Entwicklung entgegenstellen?

Es wird leider immer eine Suche nach immer billigeren Arbeitskräften geben. Und weltweit wird man immer jemanden finden, der seine Arbeitskraft noch günstiger als andere anbietet. Genau dort setzen wir mit unserer Transparenzoffensive an, um den Menschen zu zeigen, was geht. Im Rahmen internationaler Abkommen und Zusammenarbeit wollen wir Minimalstandards für Clickworker entwickeln.

Globale Standards dürften aber etwas niedriger liegen als die Sozialstandards in Deutschland. Und Arbeitgeberbeiträge für Sozialversicherungen kennt man im internationalen Umfeld ebenfalls kaum. Brauchen wir also einen Systemwechsel bei der Finanzierung des deutschen Sozialstaats?

Zunächst muss die Politik dafür sorgen, dass sich die Unternehmen ihren steuerlichen und sozialen Verpflichtungen in einzelnen Ländern nicht mehr entziehen. Die Enthüllungen um die Panama Papers sind doch ein Weckruf. Wenn Unternehmen ihre Produkte oder Dienstleistungen hierzulande verkaufen oder hier produzieren wollen, müssen sie auch unsere sozialen Anforderungen erfüllen.

Aber kommt nicht noch ein weiterer Faktor hinzu: die Mechanismen der Digitalisierung verändern auch die Aufteilung der Ressourcen, und damit auch die Verteilung der Profite. Die Kapitalseite gewinnt, und der Faktor Arbeit verliert. Was tun?

Wir müssen uns verstärkt darum bemühen, wie wir eine bessere Teilhabe der Beschäftigten an den Gewinnen, vor allem der großen Konzerne, hinbekommen. Es gibt dafür zwei Möglichkeiten: Ich kann das über die Besteuerung abschöpfen, oder ich kann das über höhere Entgelte tun. Das nennen wir Umverteilung. Dann bleibt der Kapitalseite weniger Gewinn. Letzteres haben wir ja in der gegenwärtigen Tarifrunde erreicht.

Könnten Sie sich auch eine direkte Teilhabe am Produktivvermögen vorstellen in Form von Gewinnbeteiligungen über Aktien? Früher haben sich Gewerkschaften immer wieder dagegen ausgesprochen, weil sie eine Interessenvermischung befürchteten, was die Schlagkraft in den Tarifrunden mindern könnte.

Es stellen sich angesichts der neuen Herausforderungen einige Fragen gerade neu. Und eine ist, wie wir die Arbeitnehmer in einem digitalisierten Umfeld stärker an der Kapitalrendite beteiligen können.

Gibt es schon erste Ideen oder Initiativen?

Wir müssen offen an das Thema rangehen und dürfen die Schlachten von gestern nicht neu aufleben lassen. Wir wollen die Ungleichverteilung, wie sie in vielen Statistiken etwa auch in Zahlen der Deutschen Bundesbank zum Ausdruck kommt und sich für Menschen konkret im Portemonnaie niederschlägt, in den Griff bekommen.

Die Kapitalrenditen steigen aber schon geraume Zeit schneller, als die Löhne zugelegt haben. Beschleunigt die Digitalisierung diesen Prozess jetzt noch zusätzlich?

Auf jeden Fall. Das Fatale an der Digitalisierung ist ja das ,,Winner takes it all’’-Prinzip. Setzt sich eine Plattform oder ein Konzept durch, streicht der Betreiber alle Gewinne ein und kann auch branchenfremden Anbietern die Regeln diktieren. Google etwa liegt wie ein Krake über dem Internet, verknüpft alles miteinander, zwingt uns Verbrauchern seine Features auf, und sahnt überall mit ab. Das ist eine Form der Monopolbildung, wie sie in der Realwirtschaft schon längst von Kartellbehörden unterbunden worden wäre. Warum dürfen die das eigentlich?

Das erstaunt auch Ökonomen. Der Ex-Präsident der Monopolkommission, Daniel Zimmer, hat sich im Interview der Börsen-Zeitung ebenfalls darüber verwundert gezeigt (BZ vom 6. April) und in digitalen Märkten eine rigidere Wettbewerbspolitik gefordert.

Es geschieht eine Art schleichender Unterhöhlung des Sozialstaats im Internet Arbeitnehmerrechte und die finanzielle Teilhabe breiter Bevölkerungsschichten werden ausgehebelt. Zugleich versprechen uns die Internetkonzerne das Blaue vom Himmel, wenn sie von den Segnungen der Share Economy und anderen Verheißungen der digitalen Welt schwärmen. Bei der Umgestaltung großer Teile der Wirtschaft geht es ihnen aber vor allem um ihren eigenen Profit. Demokratische Arbeitnehmerrechte und die faire Teilhabe an der Wertschöpfung drohen auf der Strecke zu bleiben.

Welche nationalen Möglichkeiten sehen Sie, um die Entwicklung in eine aus Ihrer Sicht günstigere Richtung zu lenken?

Wir adressieren die Notwendigkeit einer sozialen Absicherung aufgrund sich verändernder Erwerbsbiografien in Richtung Politik. Absicherung bei Krankheit und im Alter sind hier die Stichworte. Wir fordern, dass die Auftraggeber hinter den Plattformen und die Plattformen selbst einen sozialen Beitrag leisten zur Stabilisierung unseres Sozialversicherungssystems. Die Arbeitswelt wird sich weiter in Richtung Crowdworking entwickeln, und die bisherigen Grenzen zu den etablierten Arbeitsformen werden dadurch verschwimmen. Die Unternehmen sehen zunächst einmal ihre Kostenvorteile darin und die Flexibilität in der Ausgestaltung von Projekten und Arbeitsprozessen. Wir wollen und werden weiterhin für eine faire Beteiligung der Arbeitnehmer sorgen. Bei den Plattformen selbst stellen wir übrigens fest, dass es ein Interesse gibt, Arbeit sozial zu gestalten. Wir wollen uns gemeinsam mit der Clickworker-Community auf einen solchen Weg machen. Denkbar ist die Entwicklung eines Verhaltenskodex.

Haben die US-Digitalkonzerne nicht längst die Felle untereinander aufgeteilt und sich die Digitalzukunft gesichert?

Das scheint bisweilen so. Die US-Politik hat tatkräftig dazu beigetragen und viel Geld in das Silicon Valley gepumpt. Das ist Industriepolitik par excellence. In Washington wurde selten über irgendwelche sozialen Regelungen geredet, was die Arbeitnehmer jetzt ausbaden müssen. Wir in Europa müssen deshalb gegenhalten und wir können einiges vorweisen: Wir haben einen starken industriellen Kern, sind forschungsstark, haben gute Fachleute, branchenübergreifend ein hohes Bildungsniveau, exzellente Produkte. Und wir haben einen tragfähigen sozialen Konsens. Niemand will heute etwa eine Maschinenstürmerdebatte lostreten. Wir wollen eine Arbeitswelt gestalten, in der die Bedürfnisse der Menschen im Vordergrund stehen und es fair und gerecht zugeht. Das gilt auch in der digitalen Arbeitswelt.

Die Europäer sind keine Maschinenstürmer. Aber muss man wegen der veränderten Wertschöpfungsstruktur über neue Formen der Besteuerung nachdenken?

Wenn wir auf der Lohnseite nicht mehr weiterkämen, müssten wir in der Tat über eine Wertschöpfungsabgabe nachdenken. Es ist ein hartes Geschäft, es geht um Profite und Teilhabe, und niemand gibt freiwillig. Wir brauchen darüber eine Debatte. Soziale Marktwirtschaft geht nur mit sozialem Zusammenhalt und einer starken gesellschaftlichen Mitte.

Dabei heben Unternehmen ja selber immer wieder hervor, wie sozial verantwortlich sie handeln. Social Responsibility ist so ein Schlagwort. Machen die Ernst damit, braucht man gar keine Gewerkschaften mehr.

Es wird den Studenten in den Wirtschaftswissenschaften oft ein Zerrbild der Realität präsentiert: Die Bedingungen der Kapitalseite stehen stets im Mittelpunkt, danach hat sich alles zu richten, auch die Politik. Arbeitnehmerinteressen und Gewerkschaften hingegen kommen in den Modellwelten meist nicht einmal vor. Nun sprechen alle von der Demokratisierung der Unternehmen durch die Digitalisierung das ist doch vor allem PR. Hier wird uns ein falsches Unternehmensbild vorgegaukelt. Ohne verbriefte Mitbestimmungsrechte und Ansprüche kommen wir nicht mit der Demokratisierung und sozialen Teilhabe voran. Alles andere ist viel heiße Luft.

Warum sollten die Unternehmen auf die Ideen der Gewerkschaften eigentlich eingehen, wenn die Zeit doch für sie spielt?

Weil der gesellschaftliche Zusammenhalt zerbröselt, wenn die Menschen nicht das Gefühl haben, dass sie fair behandelt werden. Deshalb kümmern wir uns um den Ordnungsrahmen wie etwa für Beschäftigte in Leiharbeit und mit Werkverträgen.

Also doch wieder der alte Gegensatz von Kapital und Arbeit?

Insgesamt brauchen wir angesichts der zunehmenden Kapitalkonzentration und der steigenden Ungleichheit ein neues Gleichgewicht, was Teilhabe an den Profiten, was Sozialstaat und soziale Absicherung sowie die Besteuerung anbelangt. Ich hoffe hier auch auf die Einsicht der Arbeitgeber. Es ist ja ebenso in ihrem Interesse, wenn sie in einer stabilen Gesellschaft leben und ihren Geschäften störungsfrei nachgehen können. Es gibt eine große Zahl an Unternehmern, die genau so denken und sozial verantwortlich handeln. Bloß ist die Verführung im Zuge von Umbrüchen wie der derzeitigen Digitalisierung eben sehr groß. Dem schnellen Profit zuliebe werden die sozialen Leitplanken leicht übersehen.


Interview: Börsen-Zeitung vom 14.05.2016, Autor: Stephan Lorz

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