Jörg Hofmann zu Tarifbindung
Tragende Säule des Sozialstaats

Tarifautonomie und Mitbestimmung sind tragende Säulen des Sozialstaats.

21. April 201621. 4. 2016


In der Metall- und Elektroindustrie fallen 54 Prozent der Beschäftigten unter einen Flächentarifvertrag, für 5 Prozent gelten Firmentarife. 41 Prozent der Beschäftigten unterliegen keiner Tarifbindung. Ganz praktisch bedeutet dies: Ein Industriemechaniker verdiente 2010 in unseren Industriebranchen mit Tarifvertrag 20,65 Euro. Ohne Tarifvertrag waren es nur 17,12 Euro. Der Einkommensunterschied beträgt 18 Prozent, Tendenz im Zeitverlauf steigend.

Der Kollege an einem einfachen Montagearbeitsplatz mit Tarifbindung hatte einen Stundenlohn von 15,57 Euro. Dieselbe Tätigkeit in einem Betrieb ohne Tarifbindung wurde durchschnittlich mit einem Stundenlohn von 11,20 Euro vergütet. Das ist eine Differenz von 28 Prozent. Gerade bei einfacheren Tätigkeiten verhelfen Tarifverträge zu einem Einkommen, das sich vom Mindestlohn abhebt. Auch in der Metall- und Elektroindustrie finden wir Entgeltunterschiede zwischen Frauen und Männern. Bei den beruflich ausgebildeten Fachkräften verdienen Frauen in tarifgebundenen Betrieben 3,7 Prozent weniger als Männer, was auf ein nach wie vor bestehendes geschlechtsspezifisches Lohngefälle verweist, dessen Ursachen nachweisbar jenseits der Tarifstruktur liegen.


Gender-Pay-Gap fällt unterschiedlich groß aus


Allerdings ist ein solcher Gender-Pay-Gap in nicht-tarifgebundenen Betrieben wesentlich höher: Hier verdienen Frauen 14,2 Prozent weniger als Männer. Bei den Beschäftigten in leitender Stellung sind die Zahlen noch deutlicher: 9,2 Prozent in tarifgebundenen und sogar 21,5 Prozent in nicht-tarifgebundenen Unternehmen. Der relativ hohe Gender-Pay-Gap bei diesen hochqualifizierten Beschäftigten auch in tarifgebundenen Betrieben hat seine Ursachen mit darin, dass in vielen Tarifgebieten „außertarifliche Angestellte“ nicht unter die Tarifbindung fallen.

Die positiven Wirkungen einer solidarischen, auf Tarifbindung fußenden Lohnpolitik werden deutlich: Denn je geringer die Tarifbindung in der Fläche ist, desto niedriger ist das gesamte Einkommensniveau und desto stärker zeigt sich eine Spreizung der Einkommen in den Unternehmen. Ergebnis fehlender Tarifbindung ist ein mehrfach negativer Fahrstuhleffekt: Der Fahrstuhl fährt nach unten statt nach oben. Schlimmer noch: Er befördert größere Teile der Belegschaft in den Keller. Und die Tasten in diesem Lift werden willkürlich gedrückt und nicht nach transparenten und nachvollziehbaren Regeln bedient.

Das gleiche Bild gilt noch stärker für andere Arbeitsbedingungen, bei denen die Orientierungskraft des Flächentarifs signifikant niedriger ist. Zwar geben nach IAB-Betriebspanel auch nahezu die Hälfte der nicht tarifgebundenen Unternehmen an, sich am Flächentarif zu orientieren. Dies erfolgt aber fast ausschließlich beim Lohn, nicht bei anderen zentralen Regelungspunkten der Flächentarife. Gerade aber über die Lohnpolitik hinausgehende Regelungen gewinnen in der Tarifpolitik an Bedeutung. Hierzu zählen: Kündigungsschutz und Beschäftigungssicherung, Lohnfortzahlung und erweiterter Mutterschutz, tarifliche Regelungen zur Kurzarbeit, Beschäftigungssicherung, Altersvorsorge, zur Bildung, Ausbildung und Weiterbildung, zur Vereinbarkeit von Arbeit und Leben.


Sinkflug 2004 gestoppt

 

Gerade die (wachsende) Rolle der Tarifpolitik an der Nahtstelle zur Sozialpolitik im weiteren Sinne kann logischerweise nur dann wahrgenommen werden, wenn eine starke Tarifbindung besteht. Kurzum: Auf alten wie auf neuen Handlungsfeldern kann durch Tarifbindung ein Mehr an Gerechtigkeit im Arbeitsleben hergestellt werden. Die Tarifbindung befand sich in der Metall- und Elektroindustrie, wie auch in anderen Branchen, bis zum Anfang dieses Jahrtausends im rasanten Sinkflug. Diese Entwicklung konnte ab 2004 abgebremst werden und hat sich in den Jahren nach Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise sogar leicht umkehrt. Betrachtet man den Prozentsatz der durch Flächentarife erfassten Beschäftigten an der Gesamtzahl aller Beschäftigten, so sank dieser seit 1990 um ca. 20 Prozent und hat sich in den letzten Jahren bei etwa 50 Prozent stabilisiert. Insoweit scheint das Absinken der Tarifbindung zumindest gestoppt zu sein.

Dabei ist der tarifliche Deckungsgrad zum einen stark von der Betriebsgröße abhängig. In Betrieben unter 100 Beschäftigten gilt nur bis zu 17 Prozent ein Flächentarif, in Betrieben mit mehr als 500 Beschäftigten sind es 74 Prozent. Zum Zweiten beeinflusst die Branche den tariflichen Deckungsgrad. So liegt beispielsweise die Tarifbindung bei der Herstellung von Metallerzeugnissen bei 34 Prozent, im Maschinenbau bei 60 Prozent und im sonstigen Fahrzeugbau bei 80 Prozent.

Die Gründe für nachlassende Tarifbindung sind vielfältig. Sie sind sowohl auf der Arbeitgeberseite als auch auf Seiten der Gewerkschaften zu suchen. Eine Mitgliedschaft in Arbeitgeberverbänden war und ist immer eine Reaktion auf die Handlungsmacht der Gewerkschaften. Und diese ist wesentlich über ihre Mitgliederstärke bedingt. Insoweit spiegelt sich in der nachlassenden Tarifbindung der sinkende Organisationsgrad der Gewerkschaften in doppelter Weise wider. Richtig ist aber auch, dass veränderte ökonomische Rahmenbedingungen Druck auf die Tarifvertragsbindung ausüben.

So führten die ökonomische Globalisierung und die Möglichkeit des „global-sourcing“ zu Marktpreisen, die jenseits von nationalen Arbeitsbedingungen entstehen. Sie können im Hochlohnland Deutschland nur durch höhere Produktivität ausgeglichen werden. Von diesem Preisdruck sind insbesondere Zulieferbetriebe betroffen. Das ordnungspolitische Argument für Flächentarife, Wettbewerb über Qualität und Produktivität statt über die Arbeitskosten austragen zu wollen, verliert daher an Wirkung. Die zunehmende Dynamik der Umstrukturierung von Wertschöpfungsketten, neue Geschäftsmodelle und die Ausgliederung von Tätigkeiten führen dazu, dass das ständige Ringen um Tarifbindung zunimmt.

Für neue Betriebe mit neuem Management gilt zudem, was wir prototypisch in den neuen Bundesländern erleben mussten: Die Bindekraft der Arbeitgeberverbände ist schwach. Gegenstrategien wie OT-Verbände (Verbände ohne Tarifbindung) führten bis dato nicht zum erhofften Erfolg, die Tarifbindung über „Klebeeffekte“ zu erhöhen. Zur schwachen Bindekraft der Arbeitgeberverbände in Deutschland trägt ferner bei, dass die wirtschafts-und industriepolitischen Brancheninteressen von den Industrieverbänden vertreten werden, während sich Tarifverbände, wie etwa Gesamtmetall, auf die Themen der Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Sozialpolitik beschränken.


Wechselwirkung Mitgliederentwicklung und Tarifbindun

 

Was können wir tun? Die skizzierten Ursachen für nachlassende Tarifbindung beschreiben keinen unumkehrbaren Trend. Im Gegenteil: Sie sind beeinflussbar. Der Sachverhalt, dass die IG Metall im letzten Jahr nun zum fünften Mal in Folge steigende Mitgliederzahlen vorweisen kann, ist eine wesentliche Bedingung für einen Trendwechsel in der Entwicklung der Tarifbindung. Mittlerweile zeigt er Wirkung: Ein weiterer Abbruch der Tarifbindung konnte verhindert werden. Des Weiteren haben Neuerungen im Flächentarifsystem eine Trendwende bewirkt: So ermöglicht das sogenannte Pforzheimer Abkommen die befristete Öffnung der Flächentarife für betriebliche Abweichungen. Im Gegenzug gibt es verbindliche Gegenleistungen wie Beschäftigungsgarantien, Investitionen und/oder Ausbildungsplätze.

Dabei tragen nicht die Betriebsparteien, sondern die Tarifvertragsparteien die Verantwortung. Damit wurde Tarifbindung gestärkt, der Flächentarif bleibt Bezugspunkt, und die IG Metall erhielt die Möglichkeit, ihre Mitglieder im Betrieb direkt an den Aushandlungsprozessen zu beteiligen. Auch der demografische Wandel am Arbeitsmarkt verschiebt die Verhandlungsmacht: Im Ringen um Fachkräfte wird Tarifbindung in manchen Branchen und Regionen als nachweisbar attraktives Merkmal für Arbeitgeber wieder interessant. Diese Entwicklung beobachten wir zum Beispiel in einzelnen ostdeutschen Regionen. Und auch in binnenwirtschaftlich geprägten Branchen wie dem Handwerk nimmt die Bereitschaft zum Abschluss von Flächentarifen sichtbar zu. So hat die IG Metall heute eine signifikant höhere Tarifbindung im Handwerk als noch vor zehn Jahren.


Aktuelle Perspektiven für Tarifbindung und Tarifautonomie


Warum taucht die Tarifbindung gerade jetzt in der allgemeinen Debatte als Sujet auf? Und wie entwickeln sich gesetzliche Regulierung und Tarifautonomie in Zukunft? Ein Anstoß für die aktuelle Diskussion war die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes zum 1. Januar 2015. Die Mindestlohn-Debatte hat die Tarifpartner, Gewerkschaften und die Arbeitgeberseite wachgerüttelt. Mit der Einführung des Mindestlohnes erfolgte die Lohnsetzung erstmals seit 1949 nicht durch die Tarifvertragsparteien. Arbeitgeber und auch Industriegewerkschaften lehnten diesen „Eingriff in die Tarifautonomie“ lange ab. Befürworter waren hingegen von Beginn an diejenigen Einzelgewerkschaften, die von „tariffreien Zonen“ und niedrigen Löhnen extrem stark betroffen waren und sind.

Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes müssen sich alle Akteure jedoch die Frage stellen (lassen): Für welches Gefüge der Arbeitsregulierung stehen sie ― wirtschaftspolitisch und organisationspolitisch? Welches Bild der Arbeitsbeziehungen wollen und können sie ihren Mitgliedern skizzieren? Welche Bedeutung sollen künftig tarifliche Normen haben? Wie verhalten sie sich zu gesetzlichen Festlegungen? Gilt für das Entgelt das Gleiche wie zum Beispiel in der Arbeitszeitregulierung, also Mindeststandards, die tariflich verändert werden können? Oder geht es um die Ersetzung tariflicher Regulierung durch Gesetze? Das deutsche System der Arbeitsbeziehungen baut, durchaus im Gegensatz zu vielen europäischen Nachbarländern, auf eine mitgliederbezogene Tarifbindung durch Tarifverträge zwischen Arbeitgeberverbänden oder einzelnen Betrieben und Mitgliedsgewerkschaften.

Das Ganze funktioniert nur, wenn es den Beteiligten sinnvoll erscheint. Sie begeben sich aus Überzeugung in das System der Tarifautonomie. Das gilt für Arbeitnehmer genauso wie für Arbeitgeber. Für die Beschäftigten ist dies ein Akt des solidarischen Zusammenschlusses, um mittels kollektiver Verhandlungsmacht ihre Einkommen und Arbeitsbedingungen zu verbessern. Die Zusammenschlüsse der Arbeitgeber sind die Antwort auf eben diese kollektive Macht der Beschäftigten. Der Sozialstaat hat das Engagement der Tarifpartner durch exklusive Rollen und Entscheidungsbefugnisse in seinen Institutionen anerkannt, etwa bei Sozialversicherungsträgern, in der beruflichen Bildung, in den Berufsgenossenschaften. Aber auch die Einbeziehung der Tarifparteien in die informellen Strukturen politischer Entscheidungsprozesse, von der „konzertierten Aktion“ bis hin zur dialogorientierten Wirtschaftspolitik der aktuellen Bundesregierung, verdeutlicht ihren Stellenwert im hiesigen politischen System.

Sie sind damit in einer Art und Weise institutionell verankert, die weit über die Regelungsfelder der Tarifverträge hinausgeht. Die Legitimation hierfür liegt letztlich in der Tarifbindung und deren autonomer Wirkmächtigkeit auf die Wirtschafts-und Arbeitsbedingungen. Die öffentliche Aufmerksamkeit für die Bedeutung von Tarifbindungen ist zusätzlich durch die jüngste Debatte über das Tarifeinheitsgesetz befördert worden. Dieses Gesetz hat für heftigen Streit gesorgt, auch innerhalb der Gewerkschaften. Es hat eine politische Debatte um Grundrechte, Wirkmächtigkeit und Solidarität ausgelöst. Umso wichtiger ist es für die IG Metall ― aber auch für alle anderen Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände ― diese Debatte nicht einfach zu beenden, sondern die Aufmerksamkeit zu nutzen, um grundsätzliche zukunftsrelevante Fragen zu stellen: Wie soll unser Tarifgefüge aussehen, mit dem wir die anstehenden Herausforderungen der Digitalisierung der Arbeitswelt gestalten ― und das mit einer zunehmend heterogenen und differenzierteren Betriebs und Beschäftigtenstruktur?


Beteiligung ist ein Schlüsselbegriff


Ich bin überzeugt, dass Tarifbindung, gerade an den Schnittstellen zur Sozialpolitik ―, einschließlich Bildungs- und Familienpolitik ― eine wesentliche Grundlage für sozialstaatliche Sicherungen im 21. Jahrhundert ist. Wir stehen vor der Aufgabe, soziale Sicherungssysteme entlang des Erwerbsverlaufs neu zu justieren, um die vielfältigen, sich ausdifferenzierenden Erwerbs- und Bildungsverläufe kollektiv und passgenau absichern zu können. Und zwar so clever, dass tatsächlich alle Beschäftigten davon profitieren und in ihrer Arbeits- und Lebensplanung unterstützt werden. Das aber heißt: Die innere Funktionsweise und auch die Gestaltungsfelder der Tarifautonomie müssen sich verändern, weil Betriebe und Beschäftigtenstrukturen deutlich heterogener und differenzierter geworden sind. Beteiligung ist dabei ein Schlüsselbegriff. Tarifpolitische Ziele und ihre Entscheidungsprozesse müssen transparenter und stärker die Mitglieder beteiligend entwickelt werden.

Das Mega- Projekt „Beschäftigtenbefragung“ der IG Metall ist dafür ein gutes Beispiel. Sie führte uns ganz praktisch zu einer Repolitisierung von Tarifbewegungen. Auch wenn sich die arbeitsweltlichen Problemlagen für einen Ingenieur bei einem Entwicklungsdienstleister anders stellen als für eine Arbeiterin an den Bändern der Elektroindustrie, für eine junge Akademikerin im Vertrieb anders als für einen älteren Facharbeiter an der Werkzeugmaschine: es gelingt, daraus gemeinsames solidarisches Handeln zu schmieden. Das hat die qualitative Tarifpolitik der IG Metall gerade in den letzten Jahren eindrucksvoll bewiesen. Ob Tarifregelungen gegen das Auswuchern der Leiharbeit, die Übernahme der Auszubildenden, flexible Übergänge im Alter, Bildungsteilzeit zur beruflichen Entwicklung – diese Themen haben „gezündet“.

Das beweist: Diversität muss nicht in puren Individualismus münden, wenn Gewerkschaften und ihre Tarifpolitik den Beschäftigten die Chance auf eine solidarische Gestaltung der Arbeitswelt von morgen bieten. Jedoch geht es auch nicht darum, alles neu zu erfinden. Kern ist und bleibt, über Tarifbindung zu einer gerechteren Einkommensverteilung zu gelangen. Eine Wende tut not und ist möglich. Die IG Metall hat auf ihrem Gewerkschaftstag im Oktober 2015 angekündigt, die Steigerung der Tarifbindung zu einem operativen Ziel zu machen. Mitgliederstärke, Beteiligung und Tarifbindung sind das magische Dreieck erfolgreicher Politik für mehr Gerechtigkeit in der Arbeit.


Tarifbindung im Kern der Wertschöpfungsketten


Auch in den traditionellen Wertschöpfungsketten brauchen wir neue Ansätze zur Stärkung der Tarifbindung. In der anstehenden Tarifrunde Metall und Elektro wird die Tarifbindung ein explizites Thema sein. Wir wollen mehr Betriebe in die Tarifbewegung einbeziehen, erstmals auch Betriebe ohne Tarifbindung, das ist unser anspruchsvolles Ziel. Wir werden Tarifbewegungen zukünftig so anlegen, dass sich möglichst wenige Betriebe als „Zuschauer“ fühlen. Unser neues Arbeitskampfkonzept wird dazu beitragen, dass eine bundesweite Beteiligung an Tarifbewegungen gestärkt wird und auch von Seiten der regionalen Arbeitgeberverbände nicht zu früh auf einen „Pilotbezirk“ verwiesen werden kann.

In der Debatte sind Differenzierungsklauseln in Tarifverträgen, die Mitglieder besser stellen und die Mitgliedschaft noch attraktiver machen. Erste Erfahrungen liegen uns auf betrieblicher Ebene vor, diese werten wir derzeit aus. Erfahrungen konnten wir bisher auf den Gestaltungsfeldern Altersvorsorge, Freistellungsansprüche mit Entgeltausgleich bei beruflicher Bildung oder Gesundheitsprogrammen sammeln. Tarifbindung in KMU: Klein- und Mittelbetriebe (KMU) haben eine signifikant niedrigere Tarifbindung. Daher wird die IG Metall mit einer mehrjährigen Kampagne diese Betriebe in den Fokus nehmen. Wir können dabei auf die bisherigen Organisationserfahrungen und die Betriebsratsgründungen in KMU-Betrieben zurückgreifen. In diesem Bereich hat sich in den vergangenen Jahren außerordentlich viel getan. Die spezifischen Ansprachekonzepte und Durchsetzungsstrategien, die gerade in den für KMU-typischen Eigentümerunternehmen erfolgreich waren, werden weiterentwickelt. Auch hier wird die Anzahl tarifgebundener Betriebe für uns zur operativen Zielsetzung.


Tarifpolitik an den Rändern


Die rasante Neustrukturierung der Wertschöpfungskette durch Werkverträge verlangt, die Beschäftigten jenseits der Stammbeschäftigten organisationspolitisch zu erreichen und gleichzeitig tarifpolitische Riegel gegen Dumpingstrategien aufzubauen. Das ist eine anspruchsvolle Herausforderung, die wir in ähnlicher Art und Weise schon bei der tariflichen Gestaltung der Leiharbeit gemeistert haben. Mit der Kampagne gegen den Missbrauch von Leiharbeit ist es der IG Metall erfolgreich gelungen, durch aktive Mitgliedergewinnung und tarifpolitisches Handeln bessere Entgelt- und Arbeitsbedingungen durchzusetzen und das Auswuchern der Leiharbeit zu stoppen. Heute organisieren wir über 45 000 Leiharbeiter in der IG Metall ― auch dank des solidarischen Handelns der Stammbelegschaften.

Diesen Weg haben wir auch bei den Werkverträgen eingeschlagen. Auch hier gilt: Wir müssen die Beschäftigten als Kolleginnen und Kollegen ernst nehmen, organisieren und gleichzeitig die neuen Geschäftsmodelle in den Blick nehmen und eindämmen. Jeder dritte Arbeitsplatz in der Logistik und in den Industrial Services ist heute fremdvergeben, in der Entwicklung jeder fünfte. Die IG Metall wird ihre Kampagne Werkverträge intensivieren. Wir haben allein im letzten Jahr 5.000 neue Mitglieder im Bereich der industriellen Kontraktlogistik gewonnen. Deren berechtigte Erwartungshaltung ist es, auch dort die Gerechtigkeitslücke durch Tarifverträge zu schließen, wofür auch hier flächentarifliche Lösungen notwendig sind. Eine wichtige Voraussetzung konnte hierfür geschaffen werden: Ver.di und IG Metall haben sich darauf verständigt, dass die Zuständigkeit zwischen den Gewerkschaften geklärt wird ― und nicht mehr die Arbeitgeber über Zuständigkeiten entscheiden.

Tarifautonomie und Tarifbindung sind notwendige Pfeiler eines „Sozialstaats 4.0“. Will man also jenseits gesetzlicher Mindest- und Höchstnormen die Verhandlungsmacht auf dem Arbeitsmarkt nicht allein den Marktgesetzen unterwerfen, sind kollektive Verhandlungen über Entgelte und Arbeitsbedingungen auch in Zukunft ein zentraler Eckpfeiler unserer spezifischen Sozialstaatlichkeit. So kann mehr Gerechtigkeit für alle, und nicht nur für diejenigen mit starken Verhandlungspositionen auf dem Arbeitsmarkt, durchgesetzt werden. Zudem wachsen der Tarifpolitik jenseits der Kernthemen Entgeltfindung und Arbeitszeit neue gesellschaftliche Aufgaben an der Schnittstelle von Tarifvertrag und gesetzlichem Handeln zu. Beschäftigungssicherung, Ausbildung und Fortbildung, zusätzliche Altersvorsorge, Vereinbarkeit von Arbeit und Betreuungsaufgaben für Kinder und Pflege sind dafür Beispiele.


Tragende Säule des Sozialstaats


Die Mega-Aufgaben der Zukunft erfordern einen integrierten Sozialstaat, der die Regulierungsebenen Gesetz ― Tarifvertrag ― Betrieb/Individuum konsequent verzahnt. Die Alternative, also der Rückzug der Tarifvertragspartner, würde ein Weniger an Gerechtigkeit – gerade auch für die Mitte der Gesellschaft ― bedeuten. Denn deren Entgelt und Arbeitsbedingungen sind im Wesentlichen durch tarifliche Ansprüche geprägt und gerade nicht durch gesetzliche Mindestleistungen. Zugleich würde sich aber die Gerechtigkeitslücke nach unten öffnen, weil der solidarische Ausgleich „in der Klasse“ und das damit verbundene normativ-moralische Anliegen, wirklich allen zur Durchsetzung ihrer Ansprüche zu verhelfen, auf der Strecke bleiben würde. Welchen Beitrag können der Gesetzgeber und die Arbeitgeber zur Stärkung der Tarifbindung leisten? Ein integrierter Sozialstaat weist dem Gesetzgeber verstärkt die Rolle zu, Mindestbedingungen zu formulieren – gerade in einzelnen Branchen und Regionen schwacher Tarifbindung. Er weist dem Gesetzgeber aber auch die Rolle zu, Tarifautonomie und Tarifbindung zu stärken.

Mehrere Möglichkeiten stehen der Gesetzgebung dabei offen. Auch die Arbeitgeberverbände sind gefordert, ihren Zick-Zack-Kurs zwischen Marktradikalismus und erklärter Gemeinwohlverantwortung aufzugeben und konstruktiv an der Stärkung von Tarifautonomie und Tarifbindung mitzuarbeiten. Eine Debatte über Zukunftsbilder eines integrierenden Sozialstaats steht dort aus. Unsere Aufforderung an Gesamtmetall und seine Mitgliedsverbände ist es, hierzu Stellung zu beziehen. Dies erfordert auch, Tarifautonomie und Mitbestimmung als tragende Säulen eines Sozialstaats anzuerkennen. Tarifbindung ist und bleibt eine Gerechtigkeitsfrage oberster Ordnung.

Jörg Hofmann ist Erster Vorsitzender der IG Metall und unter anderem zuständig für die Funktionsbereiche Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik, Betriebspolitik, Tarifpolitik und für das Themenfeld „Zukunft der Arbeit/Industrie 4.0“. Der Beitrag ist in den WSI-Mitteilungen 2/2016, Seiten 143-147 erschienen.

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