Zeit, Nerven – und viel Geld: Was die müde Infrastruktur kostet
Marode Verkehrswege gefährden die Wirtschaft

Bis 2008 brachte ein Schwertransport seine Ladung in einer Nacht vom Siegerland nach Hamburg. Heute braucht er oft neun Tage. Weil Brücken und Straßen bröckeln, müssen Unternehmen immer längere Umwege in Kauf nehmen. Das kostet nicht nur Zeit. Es ist auch teuer und – es gefährdet Arbeitsplätze.

23. April 201423. 4. 2014


Nach Duisburg? Ja, nach Duisburg, auf direktem Weg, mehr wünscht sich Ralph Helsper, Versandleiter beim Hütten- und Walzwerkanlagenbauer SMS Siemag, im Moment gar nicht. Von Hilchenbach nach Duisburg sind es 150 Kilometer, mit dem Auto schafft man das in zwei Stunden. Mit einem Schwertransport kann es Tage dauern. In dem kleinen Ort Hilchenbach im Siegerland baut SMS Anlagen für die Stahlindustrie, zum Beispiel Walzenständer: 8,5 Meter hoch, knapp 5 Meter breit und 130 Tonnen schwer. Mehr als 90 Prozent exportiert SMS ins Ausland. Drei Schwertransporte verlassen jede Woche das Werk.

Jeder neue Auftrag stellt Helsper vor zwei Probleme: Bekommt er das Rohmaterial nach Hilchenbach hinein? Und: Bekommt er die fertige Anlage in zwei Jahren wieder heraus? Stück für Stück brechen die Verbindungen aus dem Siegerland zu den Kunden in aller Welt ab. Straßen und Brücken rund um den Anlagenbauer bröckeln. Auf der Autobahn 45, die an Siegen vorbei nach Frankfurt am Main und Dortmund führt, sind viele Brücken beschädigt. Damit sie nicht weiter verfallen, beschränken Behörden die Geschwindigkeit und das Gewicht der Laster, die über die Brücke fahren dürfen. Für Helsper heißt das: Er muss neue Wege suchen durch die schmalen Täler und kleinen Dörfer des Siegerlandes bis zu den großen Häfen.


Kosten für einen Transport haben sich verfünffacht

Jeden Abschnitt muss er sich bei Stadt-, Kreisoder Landesämtern genehmigen lassen, statistische Gutachten einholen und hoffen, dass nicht kurz vor Fahrtbeginn irgendwo auf der Strecke eine Brücke oder Straße gesperrt wird. Dann kann er wieder von vorn anfangen. Das kostet nicht nur die Nerven des Versandleiters, es verlängert und verteuert den Transport. Bis 2008 brachte einTransporter seine Ladung in einer Nacht von Hilchenbach nach Hamburg. Heute dauert die Fahrt acht bis neun Tage und kostet vier- bis fünf mal so viel. Mit dem Fahrrad wäre man schneller. Schrittweise verlängerte sich der Weg. Eine Brücke nach der anderen wurde gesperrt, zu marode für schwere Transporte. Aus einer Nacht wurden vier, fünf, sieben, schließlich neun Tage.

Große Teile baut die SMS Siemag im Siegerland. Ihr Transport bereitet Versandleiter Ralph Helsper (rechts) und den Betriebsräten Sabine Leisten und Wolfgang Schlabach Kopfzerbrechen. Foto: Stephen Petrat


Seit Sommer vergangenen Jahres fahren die großen Laster nachts durch die Dörfer bis ins Ruhrgebiet. Im Schritttempo schleicht der schwere Lastzug durch Ortschaften. Auf dem Weg müssen Verkehrsschilder abgebaut und Ampeln weggeklappt werden. Oft braucht der Transport drei Tage für die 130 Kilometer nach Gelsenkirchen. Güterverkehr verdoppelt. Überall im Bundesgebiet sind wichtige Verkehrsrouten für Schwertransporte gesperrt. Als die Architekten in den 1960er- und1970er-Jahren Brücken planten, ahnten sie nicht, wie viele Laster und Autos ihre Bauwerke heute ertragen müssen. Der Güterverkehr hat sich in den letzten 20 Jahren verdoppelt. Schwertransporte konnten Statistiker in den 1970er-Jahren an einer Hand abzählen. Heute fahren durch Nordrhein-Westfalen jedes Jahr 100 000.


Deutschlands Infrastruktur nur noch auf Platz neun

Die Folge: Straßen und Brücken nutzten sich schneller ab, als es ihre Erbauer vorausberechnet hatten. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) sind ein Fünftel der Autobahnen und gut 40 Prozent der Bundesstraßen in einem bedenklichen Zustand. Bereits 2001 warnte das DIW, dass die Politik zu wenig in den Erhalt der Verkehrswege stecken würde. Es änderte sich nichts. Brücken, Straßen, Schienen und Schleusen rottetenweiter vor sich hin. Innerhalb von fünf Jahren rutschte Deutschlands Infrastruktur im internationalen Vergleich von Platz drei auf Platz neun, auf den ersten drei Plätzen lagen die Schweiz, Singapur und Finnland.


Dabei spielt es keine Rolle, welchen Verkehrsweg Unternehmen wählen. Ein Viertel aller Transporte schickt SMS über die Bahn. Diese Transporte fordern Versandleiter Helsper genauso heraus. Den Bahntransport eines Schwerteils von über 300 Tonnenmuss er ein Jahr im Voraus planen, den Termin ein halbes Jahr vorher festlegen. Im November meldete ihm die Produktion, dass sie einen dieser schweren Bahntransporte um eine Woche verschieben muss. Helsper blieb fast die Luft weg und er erklärte: „Wenn wir das verschieben, kommt das Teil nicht eine Woche später im November. Dann kommt es Ostern.“


Schaden von bis zu 80 Millionen Euro – in nur 90 Tagen

Helspers Fazit: „Die Bahn hat in den vergangenen 20 Jahren nur abgebaut. Sie hat nicht für die Zukunft geplant.“ Kritiker werfen der Bahn vor, zwei Drittel der Firmengleisanschlüsse in den vergangenen Jahren vom Netz abgehängt zu haben. Die Zahl der Strecken, auf denen Züge langsam fahren müssen, weil sie in schlechtem Zustand sind, steige. Verspätungen im Zugverkehr, gesperrte Autobahnbrücken oder Bahnstrecken ärgern Kunden und kosten Geld.

Als die Rheinbrücke bei Leverkusen im Sommer 2013 für 90 Tage gesperrt wurde, mussten täglich 14000 Lkw Umwege fahren. Das bedeutete: Zeitverluste für Betriebe und höhere Belastungen für die Umwelt. Den volkswirtschaftlichen Gesamtschaden nur für diese 90 Tage bezifferte die Initiative Pro Mobilität auf 60 bis 80 Millionen Euro. Und sie entstehen nicht nur hier. In Schleswig-Holstein, Hamburg, in Nordhessen und in Berlin – überall werden Brücken zum Nadelöhr. Probleme, die die Politik offenbar lange nicht sah.


Arbeitsplätze hängen von funktionierender Infrastruktur ab

Noch vor drei Jahren stießen Wolfgang Schlabach, Betriebsratsvorsitzender bei SMS, und seine Betriebsratskollegin Sabine Leisten in Berlin auf taube Ohren. Damals besuchten sie den Bundesverkehrsausschuss, schilderten ihr Problem und bekamen Vorschläge wie diesen: Sie sollten doch kleinere, leichtereTeile bauen. Sabine Leisten schüttelt noch heute den Kopf, wenn sie sich daran erinnert: „Wir kamen uns vor wie die Vertreter des gallischen Dorfs.“

Siegen-Wittgenstein ist eine starke Industrieregion. Hartwig Durt, Erster Bevollmächtigter der IG Metall Siegen, schätzt, dass fast 5000 Arbeitsplätze direkt von einer funktionierenden Infrastruktur abhängen. „Gesperrte Brücken und Baustellen treffen nicht nur SMS, sondern auch unsere Gießereien, die Hersteller von Stahlrohren
und Schmiedemanipulatoren“, sagt Durt. Sie alle liefern große Teile. Verkehrswege sind für sie lebensnotwendig, zu viele Sperrungen lebensbedrohlich.


Umleitungen verursachen Probleme mit Anwohnern

Laut Universität Siegen fahren in der Region pro Jahr 1800 Transporte mit Polizeibegleitung – drei pro Nacht. „Wenn alle Umwege über Dörfer nehmen, bekommen wir ein Problem mit den Anwohnern“, sagt Schlabach. SMS ist der größte Arbeitgeber der Region. 2400 Menschen arbeiten hier. „Es gab auch Ansätze, die Produktion nach Duisburg zu verlegen, direkt an den Hafen“, sagt Wolfgang Schlabach. „Wenn die Infrastruktur immer instabiler wird, sind die Arbeitsplätze in unserem Land mehr und mehr gefährdet.“ Jetzt reagiert auch die Politik. Beim nordrhein-westfälischen Verkehrsminister gibt es mehrere Arbeitsgruppen, die nach Lösungen suchen. Sie wollen Routen für Schwertransporte zu den Häfen festlegen. Vielleicht kommen die Transporter von SMS bald ohne Umwege ans Ziel. Sie wollen ja nur nach Duisburg.

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