TTIP: nur fair und sozial
Wofür wir am Samstag demonstrieren

Mit der Ablehnung von TTIP machen es sich etliche Kritiker sehr einfach. Dabei wurde über den Kern des Abkommens noch gar nicht diskutiert: Wer produziert eigentlich, was später frei gehandelt werden soll?

7. Oktober 20157. 10. 2015


TTIP ist ein langweiliges Ungetüm. Wenn am Samstag mehrere tausend Menschen gegen das geplante transatlantische Freihandelsabkommen auf die Straße gehen, werden sie über Schiedsgerichte und Investorenschutzklauseln streiten und über Chlorhühner und Blinkerfarben lachen. Sie werden über Abgasnormen reden und das Handelshemmnis gebundener Buchpreise hinterfragen. Millionen von Menschen haben im Netz bereits Petitionen unterzeichnet und sich Bürgerinitiativen angeschlossen. Dort lässt sich nachlesen, was für und insbesondere gegen TTIP spricht.

Eine Sache wird für den geplanten Freihandelsvertrag und den Protest dagegen aber wieder im selben Maße gelten: Der entscheidende Protagonist bleibt auch diesmal außen vor. Die Kritik der Verbraucher richtet sich gegen Politiker, Händler und Investoren. Die Beschäftigten finden dagegen in der Diskussion nicht statt. Uns verwundert das kaum, sie gerieten schon früh aufs Abstellgleis: Blicken wir zurück, in die Zeit lange vor TTIP. 1949, im Gründungsjahr der Bundesrepublik und der IG Metall, geschah in Washingtons D.C. Entscheidendes. Der amerikanische Senat setzte die Ratifizierung der Gewerkschaftsfreiheit und das Recht auf kollektive Verhandlungen auf seine Agenda.

Beide Grundrechte wurden zuvor von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) formuliert. Seit 1998 zählen sie zu den sogenannten acht Kernarbeitsnormen. Sie garantieren heute den Sozialstandard der Welthandelsordnung. Jeder EU-Mitgliedstaat hat sie anerkannt und unterschrieben. Nur in den USA tat sich wenig. Die Freiheit der Gewerkschaften bleibt bis auf weiteres politischer Wunsch. Seit 66 Jahren liegt er dem Senat zur Unterschrift vor, kein anderer wartet länger auf Verwirklichung.

25 Prozent Zoll für einen Transporter

Dieses traurige Schicksal der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihrer Rechte ist allerdings noch kein Grund, heute TTIP abzulehnen. Nachteile im Handel müssen nämlich nicht gegen Vorteile in der Produktion ausgespielt werden. Schließlich gilt: Der Export mancher europäischen Autos nach Amerika kostet heute noch 25 Prozent Zollgebühren. Europäische Maschinen- und Anlagenbauer zahlen zuweilen mehr Geld für Bürokratie, als sie in Entwicklung und Produktion investieren, um auch in Amerika verkaufen zu können. Aus der anderen Richtung betrachtet sind die durchschnittlichen Zoll-Belastungen amerikanischer Unternehmen sogar noch höher, wenn sie nach Europa exportieren.

Es gibt Beispiele dafür, solche Handelshemmnisse abzubauen, ohne die Arbeitswelt dem freieren Kräftespiel des Marktes auszuliefern. Ausgerechnet dafür ist Amerika ein besonderes Beispiel. Um das zu zeigen, reicht ein Tweet: Michael Froman, als „US Trade Representative“ zuständig für die Verhandlungen aller Handelsabkommen mit amerikanischer Beteiligung, veröffentlichte Ende Juni ein interessantes Bild aus dem Weißen Haus. Es zeigt Präsident Obama beim Unterschreiben von Gesetzen. So weit, so gewöhnlich. Doch Fromans kurze schriftliche Notiz, für die er die 140 Zeichen seines Tweets aufbrauchte, lautete: „Aufregend. Der Präsident stellt sicher, dass Amerikas Arbeiter vom fortschrittlichsten Handelsabkommen aller Zeiten profitieren“.

Froman meinte nicht TTIP, sondern TPP, das in diesen Tagen fertiggestellte pazifische Pendant. Die Erweiterung der pazifischen Freihandelszone führt in Amerika seit sieben Jahren zu Besorgnis. Gewerkschaften fürchten eine Absenkung der Sozialstandards, Arbeiter sehen sich von neuen Verlagerungs- und Outsourcing-Wellen bedroht. Plötzlich rückten die Beschäftigten ins Zentrum der Debatte vor – und erhielten ihr eigenes Abkommen. Die „Trade Adjustment Assistance for Workers“ (TAA) soll das Freihandelsabkommen flankieren und in der Bevölkerung die Bereitschaft für das Handelsabkommen stärken. Beispielsweise durch Unterstützung älterer Arbeitnehmer, denen nach Arbeitsplatzverlagerung längere Arbeitslosigkeit droht. Dieses Gesetz unterschrieb Obama.

Screenshot Twitter

Ihm voraus spielte sich das größte politische Drama Amerikas seit Obamas Gesundheitsreform ab. Obamas Unterschrift, die Froman aufgeregt publizierte, ist das vorläufige Ende einer Geschichte von gewerkschaftlichen Proteststürmen, empfindlichen Abstimmungsniederlagen und wissenschaftlichen Analysen, die auch hinterfragen, wie viel politische Handlungsfreiheit überhaupt bleiben kann, nachdem über wirtschaftlichen Freihandel entschieden wurde.

In Amerika war also all das zu beobachten, was in Europa bei der Schaffung von Freihandelszonen bis heute fehlt. Als die Bundesregierung vor wenigen Wochen gefragt wurde, ob sie schon Erkenntnisse darüber habe, wie das geplante Freihandelsabkommen mit Amerika die hiesige Arbeitswelt verändert, musste sie passen. Die Antwort der Regierungssprecher in der Bundespressekonferenz lautete: „Ich fürchte, da erwischen Sie mich auf dem falschen Fuß.“ Die Antwort war doppelt richtig. Es gibt noch keine Antworten auf die Frage. Wir haben aber auch keine Debatte, die bald zu Antworten führen könnte. Bleiben wir also bei den Fragen, die wir heute stellen müssen.

Wir wissen, dass die Lohnstückkosten im Verarbeitenden Gewerbe in Amerika weit niedriger als in Deutschland sind. Dieser wichtige Indikator zur preislichen Wettbewerbsfähigkeit weist eine transatlantische Lücke von 19 Prozent für das verarbeitende Gewerbe aus. Seit der Präsidentschaft Ronald Reagans entkoppelt sich in Amerika die Steigerung der Produktivität von der Entwicklung der Löhne zum Nachteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Ebenso Jahrzehnte alt ist die Tradition des „Union Bustings“, die erfolgreiche politische Strategie der sogenannten Gewerkschaftsvermeidung. Beides hängt offenbar miteinander zusammen und betrifft sogar deutsche Unternehmen.

Weder ein süddeutscher Autobauer, der einen Weltbetriebsrat hat, noch ein norddeutscher Autobauer, dessen niedergeschriebene Unternehmensphilosophie Arbeitnehmervertretungen in allen Standorten vorsieht, hat in allen amerikanischen Werken Betriebsräte. Dahinter steckt keine große Anstrengung, sondern politische Hilfe vor Ort. Aus den deutschen Unternehmenszentralen heißt es beispielsweise: „Die Mitarbeiter müssen sich entscheiden“. Es sind dann die Gouverneure vor Ort, die es anders sehen: Betriebsräte „würden es mir deutlich schwerer machen, andere Unternehmen in den Bundesstaat zu holen“, sagte beispielsweise der Gouverneur Alabamas dem deutschen „Handelsblatt“.

Im Land des „Union Busting“

In der amerikanischen Presse wird die Diskussion offen geführt. Die „Los Angeles Times“ beschrieb einmal den amerikanischen Süden aus der Perspektive ausländischer Investoren, als „das neue China“. Insbesondere Autobauer führten sich auf wie „die neuen Slumlords“. Das „Wall Street Journal“ behauptete dagegen: „Das Letzte, was die Wirtschaft braucht, ist der Import europäischer Arbeitspraktiken.“ Es bedeutet wenig, dass sich Amerika als größter Finanzier der Internationalen Arbeitsorganisation vor achtzehn Jahren zu den Kernarbeitsnormen bekannte. Wirklich bindend sind nur die Ratifizierung und die Umsetzung in der Gesetzgebung.

Dass sogar die Planung eines transatlantischen Freihandels wenig an der amerikanischen Haltung zu ändern vermag, ist ein interessantes Phänomen. Es hat mit der grundsätzlichen Zurückhaltung Amerikas bei internationalen Abkommen nichts zu tun. Stattdessen verweisen die Verhandlungspartner auf schwierige juristische Probleme. Das Arbeitsrecht ist in Amerika Sache der Bundesstaaten, TTIP dagegen ist Bundesangelegenheit. Der Beteuerung der Schwierigkeit steht allerdings die Forderung des Dachverbands der amerikanischen Gewerkschaften (AfL-CIO) gegenüber, die Kernarbeitsnormen zu ratifizieren. Soll es denn tatsächlich eine Lösung sein, die Arbeitswelt in einem interkontinentalen Abkommen außer Acht zu lassen, weil sie sich bereits innerstaatlich nicht diskutieren und schützen lässt?

Zugegebenermaßen würde eine Beachtung des Arbeitnehmers im verbindlichen Vertragstext das Freihandelsabkommen mit Amerika komplizierter machen als es heute ist, da es momentan vor allem Investoren Rechte einräumt, ohne auch ihre Pflichten festzuschreiben. Man müsste darüber hinaus im Bereich des Umwelt- und Verbraucherschutzes beispielsweise diskutieren, wie das europäische Vorsorgeprinzip mit dem amerikanischen Risikoprinzip in Einklang gebracht werden könnte.

Viele Praktiken in Europa stehenunter einem politischen Erlaubnisvorbehalt. In Amerika dagegen wird weniger auf Sicht gefahren, dafür mit höheren Entschädigungssummen hantiert. Hinzu kommt, dass in Europa wenige Zertifizierungsstellen allgemeine Normen setzen, während in Amerika die Normung und Standardsetzung selbst einem unüberschaubaren Marktprinzip unterworfen ist. Diese Normierungen treffen wir nicht nur im Automobilbereich bei der Festlegung von Größen und Farben technischer Bauteile, sondern auch beim Arbeitsschutz, beispielsweise hinsichtlich der Schutzkleidung an.

Ließe sich die transatlantische Arbeitswelt überhaupt vergleichbar homogenisieren, ähnlich wie TTIP den Markt für Händler und Investoren ebnen soll? Die Antwort fällt schwer. Die Losung des in Sachen Freihandel federführenden Wirtschaftsministers Sigmar Gabriel (SPD) – lieber heute mit Amerika Standards auszuhandeln, anstatt sie sich in zwei Jahrzehnten von China diktieren zu lassen – ist allerdings auch nicht so einfach, wie sie klingt. Die wirtschaftliche Verflechtung mit China ist bereits sehr eng. China ist ein bedeutender Absatzmarkt für die deutsche Industrie.

Dies dürfte wie schon in der Vergangenheit von Bedeutung für künftige Vereinbarungen mit China sein. Die Vorstellung, wir könnten China unsere Standards aufzwingen scheint zu naiv. Gewiss hätten wir im transatlantischen Verbund eine stärkere Position, aber diese sollte vor allem genutzt werden, um Arbeits-, Sozial-, Verbraucherschutz- und Umweltschutzstandards auf hohem Niveau zu sichern. Wenn das gelänge, hätte ein solches Abkommen auch unsere Unterstützung.

TTIP bedeutet bei heutigem Stand aber eher für Europa eine Homogenisierung nach unten. Nur wenige Bereiche, beispielsweise der Patientenschutz oder die Regulierung des Banksektors, werden für Europa strengere Regeln bedeuten. Dabei haben die Verhandlungsführer des Wirtschaftsministeriums nicht Unrecht: TTIP ist eine der letzten Chancen Europas, die Welt nach seinen Ideen und nach Vorbild seiner Errungenschaften mitzugestalten. Nur sollte dann über die Wertegemeinschaft konkret und offen gesprochen werden.

Die Arbeitswelt allein in einem Nachhaltigkeitskapitel zu thematisieren und damit auf einen Nebenschauplatz ohne Verbindlichkeiten und Sanktionsmöglichkeiten zu „verbannen“, liefert die Arbeitswelt und ihre Werte dem Markt aus. Dabei ist es machbar, Menschenrechte und Sozialstandards fest in Freihandelsabkommen zu verankern, Sanktionen zu definieren und auch das Aussetzen eines Abkommens bei Verstößen vorzusehen. Damit dies gelingt, muss unsere Orientierung sein, den Wohlstand für Viele und nicht für einige Wenige zu mehren. Das gelingt nur mit fairen Handelsregeln. Dafür setzen wir uns ein!

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