Interview mit Hans-Jürgen Urban, Stuttgarter Zeitung
„Kein Anlass für Katastrophenszenarien“

Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, weist die Kritik an der Rente mit 63 zurück. Er rät, die Gründe des Andrangs zu erörtern. Zudem sollte die Unternehmen analysieren werden, wie den Beschäftigten den Verbleib im Arbeitsleben ermöglicht werden kann.

16. Dezember 201416. 12. 2014


Herr Urban, die Rente mit 63 wird viel stärker angenommen als zunächst gedacht – sehen Sie die große Akzeptanz mit Genugtuung?
Die Resonanz ist groß, aber nicht dramatisch größer als gedacht. Richtig ist: es gibt Beschäftigte, die sich aus guten Gründen für die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren entscheiden. Deswegen freuen wir uns darüber, dass wir im Rahmen eines flexiblen Ausstiegskonzepts eine weitere Möglichkeit durchsetzen konnten, die offensichtlich gut in die heutige Arbeitswelt passt.

Ist der enorme Andrang das richtige Signal vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung?
Das ist doch die falsche Frage. Ich finde es viel spannender, darüber nachzudenken, warum die Menschen vorzeitig aussteigen wollen, obwohl zum Beispiel ein Durchschnittsverdiener, der mit 63 statt 65 geht, im Westen monatlich 58 Euro und im Osten etwa 53 Euro weniger Rente erhält – und zwar sein ganzes Rentnerleben lang. Das muss doch Gründe haben, und die liegen in den Arbeitsbedingungen. Wir sollten nicht so lange darüber rätseln, wie viele Menschen diese Rente in Anspruch nehmen, sondern danach fragen, was getan werden kann, um ihnen den Verbleib im Arbeitsleben zu ermöglichen.

Man weiß, dass viele gut verdienende Facharbeiter mit hohem Rentenniveau die Chance zum Ausstieg nutzen. Zudem fehlen sie künftig den Unternehmen.
Viele der Kollegen mit über 45 Versicherungsjahren haben sehr früh angefangen. Teilweise sind sie un- und angelernt und haben ein Leben lang in belastenden Tätigkeiten gearbeitet. Gerade für sie ist die neue Rente da. Es gibt auch in unseren Branchen viele, die auf oder unter dem Durchschnittseinkommen liegen. Schließlich: wenn die Arbeitgeber die gut ausgebildeten Fachkräfte brauchen, sollten sie nicht klagen, sondern sich darum bemühen, sie zu halten.

Im Grunde handelt es sich um eine Männerrente – die Frauen haben naturgemäß das Nachsehen?
Richtig ist: gegenwärtig ist der Anteil der Frauen mit 45 Versicherungsjahren in Westdeutschland relativ gering – im Osten sieht das schon anders aus. In Zukunft wird sich das verändern, weil Frauen immer früher ins Berufsleben eintreten und geschlossenere Erwerbsbiografien vorweisen werden. Vorausgesetzt, der Trend zur Diskriminierung bei Einkommen und Arbeitsplatzsicherheit wird gestoppt. Denn der benachteiligt vor allem Frauen. Wichtig ist aber auch: ein Modell flexibler Übergänge, das seinen Namen verdient, muss verschiedene Ausstiegsmöglichkeiten bieten. Nicht jede Möglichkeit passt für jeden, aber für jeden muss eine passende dabei sein.

Was sagen die jungen IG-Metall-Mitglieder, deren Renten wegen der Neuregelung weniger steigen werden und die selbst nie ein solch gutes Versorgungsniveau erreichen werden?
Unsere große Beschäftigte vor einem Jahr hat gezeigt, dass die Zustimmung zur Rente nach 45 Versicherungsjahren generell sehr hoch ist, bei den jungen Kollegen sogar noch ein wenig höher als bei den älteren. Verbunden ist dies allerdings mit der Erwartung, für eine stabile Rentenversicherung zu sorgen. Deswegen wird die IG Metall die Entwicklung des Rentenniveaus als das nächste Schwerpunktthema auf die sozialpolitische Agenda setzen. Nach 45 Versicherungsjahren mit durchschnittlichen Beiträgen beträgt die Bruttorente heute in den alten Bundesländern 1287 Euro und in den neuen Ländern 1187 Euro. Bei diesen Fakten ist doch offensichtlich, dass die geplante Absenkung des Rentenniveaus falsch und nicht hinnehmbar ist.

Befürchten Sie nicht, dass die Rente mit 63 zu Lasten weiterer Gewerkschaftsprojekte geht?
Es kann schon sein, dass aus durchsichtigen Motiven immer wieder eine neue Kampagne entfacht werden soll. Aber das wird sich irgendwann erschöpfen, weil die Zahlen keinen objektiven Anlass für Katastrophenszenarien bieten. Den Mehrkosten stehen ja auch Entlastungen der Rentenkasse gegenüber, weil diejenigen, die früher gehen, zwei Jahre weniger Beiträge zahlen und deshalb weniger Anwartschaft haben. Wir sehen dem Ganzen gelassen entgegen.

Das Gespräch führte Matthias Schiermeyer.

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