China im Turbokapitalismus
Armut, Reichtum und soziale Spannungen

Die Volksrepublik China ist längst zum kapitalistischen Global Player aufgestiegen. Doch die Früchte des Aufschwungs sind höchst ungleich verteilt. Mit ihrem Bericht „Zur Lage der chinesischen Bauern“ haben die Autoren Wu Chuntao und Chen Guidi 2004 auf die katastrophale Situation der ...

20. Oktober 200920. 10. 2009


... Landbevölkerung aufmerksam gemacht. Das Ehepaar berichtete vergangenen Freitag im IG Metall-Haus in Frankfurt, was sich seit der Veröffentlichung geändert hat.

„Die Entwicklungen im Reich der Mitte werden nicht nur in Deutschland mit Bewunderung und großen Hoffnungen sondern auch mit Angst und Besorgnis beobachtet“, sagte der Erste Vorsitzende der IG Metall, Berthold Huber, zu Beginn der Veranstaltung „Ein Land – zwei Welten. Chinas Turbokapitalismus: Armut, Reichtum und soziale Spannungen“ am Freitag im Frankfurter main_forum.

Licht und Schatten
China sei nicht nur eines der erfolgreichsten Länder in Sachen Armutsbekämpfung. Die viertstärkste Wirtschaftsnation der Welt werde Deutschland früher oder später auch als Exportweltmeister ablösen, so Huber. Auf der anderen Seite sei die Volksrepublik jedoch ein Land mit gravierenden sozialen Ungerechtigkeiten und großen Defiziten was Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit sowie Presse- und Meinungsfreiheit anbelangt.

Zwar geht es den 720 Millionen Bauern und der ländlichen Bevölkerung nach 30 Jahren Reform- und Öffnungspolitik besser als zu Zeiten Mao Zedongs, doch mit einem Jahreseinkommen von durchschnittlich 500 Euro lassen sich auch in Zentral- und Westchina nur die lebensnotwendigsten Ausgaben bestreiten. Das chinesische Schriftsteller-Ehepaar Wu Chuntao und Chen Guidi hat die Situation der Landbevölkerung in dem 2004 erschienenen Bestseller „Zur Lage der chinesischen Bauern“ dokumentiert. Dazu reisten sie drei Jahre über die Dörfer der zentralchinesischen Provinz Anhui. Das Ergebnis ist ein erschütternder Bericht über Armut, Ausbeutung, soziale Ungerechtigkeit und Korruption.

Das Leben jenseits der Millionenmetropolen
Mit ihrer Arbeit wollten Wu Chuntao und Chen Guidi die Menschen in den Städten daran erinnern, dass es auch ein China außerhalb der Millionenmetropolen wie Peking oder Hongkong gebe, sagen sie. Viele Stadtbewohner hätten keinerlei Vorstellung von den prekären Lebensbedingungen der Landbevölkerung, obwohl über die Hälfte aller Chinesen noch immer auf dem Land lebe.

Ihr Buch wurde sofort nach Erscheinen ein Bestseller und bescherte dem Autorenpaar internationale Aufmerksamkeit und schließlich den Lettre Ulysses Award. In China selbst verhinderte die Zensurbehörde eine zweite Auflage des Berichts. Seitdem kursiert er millionenfach als Raubkopie.

Wu Chuntao und Chen Guidi bei der IG Metall in Frankfurt. Bild: Renate Schildheuer
Moderator Claus Eilrich (IG Metall), Dolmetscher Dr. Iwo Amelung (Goethe-Universität) mit Chen Guidi und Wu Chuntao (v.l.).



Persönliche Konsequenzen

Die Veröffentlichung ihrer Recherchen hatte für die Autoren auch unangenehme Folgen: Ein hoher Parteifunktionär sah sich im Buch verleumdet und zerrte Wu Chuntao und Chen Guidi vor Gericht. Das Verfahren sei zwar noch nicht abgeschlossen, ihre Heimat-Provinz Anhui hätten sie jedoch verlassen, nachdem ihr Haus mehrere Tage lang mit Steinen attackiert wurde, berichtet Chen Guidi.

Trotzdem scheint der Bericht Wirkung zu zeigen: Die wirtschaftliche Belastung der Bauern habe sich in den letzten Jahren verringert. Die Regierung habe nicht nur die Schulgebühren teilweise gestrichen, sondern auch die Agrarsteuern abgeschafft und begonnen, Landwirte zu subventionieren. Auch die medizinische Versorgung habe sich nach Einführung einer staatlich geförderten Krankenversicherung erheblich verbessert.

Bauern fehlt Interessenvertretung
Nach wie vor fehle den chinesischen Bauern allerdings eine organisierte Interessenvertretung. Während beispielsweise Fischer eigene Vereinigungen haben, hätten Bauern keine Möglichkeit, ihre Interessen zu artikulieren und zu schützen, so Chen Guidi. Das führe dazu, dass Gelder, die den Bauern von der Regierung zur Verfügung gestellt werden, in den Händen von Parteifunktionären landen und nicht im Sinne der Landbevölkerung eingesetzt werden.

Der IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber erinnerte in diesem Zusammenhang daran, dass es in China weder freie Gewerkschaften noch Vereinigungsfreiheit im europäischen Sinne gebe. Allerdings sei zu beobachten, dass chinesische Arbeitnehmer selbstbewusster werden. Die Zahl der Arbeitskonflikte nehme zu und auch innerhalb der All-China Federation of Trade Unions sehe er Fortschritte.

Das Heer der Wanderarbeiter

Ungelöst seien auch die Probleme der etwa 240 Millionen chinesischen Wanderarbeiter. Einerseits suchten immer mehr Menschen, die ihren Lebensunterhalt nicht mehr in der Landwirtschaft bestreiten können, ihr Glück in den Städten. Andererseits hätten im Zuge der Wirtschaftskrise viele ihre Arbeit in der Stadt verloren und kehrten nun ohne eine Perspektive zurück in ihre Dörfer.

Mit Blick auf die prekäre Situation der weitgehend rechtlosen Wanderarbeiter sagte Huber, es sei auch Aufgabe der Gewerkschaften, sich darum zu kümmern, dass der Erfolg des Aufschwungs gerechter verteilt werde. Er begrüßte, dass die chinesischen Arbeitnehmervertreter die Hilfe deutscher Gewerkschaften suchten. Nachdem im April dieses Jahres in Peking ein erster gemeinsamer Workshop zur Tarifpolitik stattfand, seien nun weitere Kooperationen in Planung. Verbesserte Arbeits- und Einkommensbedingungen seien schließlich nicht nur für die 774 Millionen chinesischen Arbeitnehmer notwendig, so Huber, „sie liegen in unser aller Interesse“.

Wu Chuntao und Chen Guidi leisten ihren Teil, um die Öffentlichkeit über den Arbeitsalltag im chinesischen Turbokapitalismus aufzuklären. Aktuell arbeitet das Paar an einem Bericht zur Situation der chinesischen Wanderarbeiter.

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