Was unsere Arbeit unsicher macht
Vorsicht! Rutschgefahr

Die Angst vor dem sozialen Absturz lähmt viele Menschen. Wer einen festen Job hat, überlegt es sich dreimal, ob er wechselt. Denn der Arbeitsmarkt kann heute schnell zur Rutschbahn nach unten werden. Überall lauern Falltüren: Sie heißen Leiharbeit, Werkverträge, Niedriglohn oder Hartz IV. Die ...

26. Januar 201226. 1. 2012


... IG Metall hält dagegen: Mit dem Tarifvertrag. Und mit ihrer Forderung nach einem politischen Kurswechsel für sichere und faire Arbeit.

Acht Mark pro Stunde, das war auch Ende der 90er-Jahre nicht üppig. Aber besser als nichts. Und es sollte ja nicht für immer sein. So dachte Marina Güther, als sie in der Produktion eines Elektronikteileherstellers in der Nähe von Leipzig anfing. Das ist zwölf Jahre her und Marina arbeitet immer noch dort. Dabei wurde es in den letzten Jahren immer schlechter. „Es gibt kein Lob, keine Prämien“, sagt Marina. Nur arbeiten, arbeiten, arbeiten. „Vom Geld ganz zu schweigen. Vor einem Jahr verglich sie ihre Stundenlöhne mit denen der Leiharbeitnehmer im Betrieb und stellte fest: Mit ihrem Tarifvertrag der christlichen Gewerkschaft verdienten sie mehr als einige Festangestellte.“ Ohne Tarifvertrag kam Marina auf 5,12 Euro pro Stunde. Ihre Leiharbeitskollegen auf 6,38 Euro. „Natürlich sind viele unzufrieden“, sagt die 51-Jährige. Aber die Grenze nach Tschechien ist nicht weit. Niemand muss Marina und ihren Kolleginnen drohen. Die Angst, dass der eigene Arbeitsplatz plötzlich weg sein könnte, ist da, und die Alternativen fehlen. Das einzige, was Marina von dem Arbeitsmarkt da draußen noch erwartet, ist Leiharbeit. Nein, da bleibt sie lieber, wo sie ist.


Angst lähmt

Wie Marina hält auch andere Menschen oft nur der Mangel an Alternativen an ihrem Arbeitsplatz. Das war einmal anders. Das Klischee vom Arbeiter, der von der Ausbildung bis zur Rente in einem Betrieb blieb, zeichnet ein falsches Bild älterer Jahrgänge. In den 50er-Jahren strömten die Menschen aus der Landwirtschaft und dem Handwerk in Scharen in die Industrie. Dort verdienten sie mehr. Gerhard Bosch, geschäftsführender Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) in Duisburg, sieht den Unterschied zwischen früher und heute daher weniger in langen Betriebszugehörigkeiten. „Wer früher den Arbeitsplatz wechselte, hat sich finanziell verbessert. Heute ist die Gefahr groß, abzustürzen.“

Diese Angst lähmt Menschen. So stellt das IAQ fest: Die Mobilität auf dem deutschen Arbeitsmarkt ist eher gesunken. Mit den Hartz-Gesetzen entzog die Politik vielen Menschen den sicheren Boden, von dem aus sie einen Sprung wagen konnten.Wer einen festen Job hat, bleibt, auch wenn er unzufrieden ist. Aus Angst abzurutschen.

Die Inseln der Sicherheit schrumpfen. Das „Normalarbeitsverhältnis“ in Form einer unbefristeten Vollzeitstelle ist auf dem Rückzug. Laut Statistischem Bundesamt nahm es zwischen 1991 und 2010 um 3,8 Millionen ab. Gleichzeitig stieg die Zahl der Teilzeit- und Minijobs, der Befristungen und der Leiharbeitnehmer. Während 2001 weniger als ein Drittel aller neuen Verträge befristet war, war es acht Jahre später schon fast jeder zweite.

Die Zahl der Leiharbeitnehmer hat sich verdreifacht, die der Niedriglöhner stieg um mehr als zwei Millionen. Dabei liegen gute und schlechte Arbeit oft unter einem Dach. In vielen Betrieben schrumpfen die Stammbelegschaften. Leiharbeitnehmer, externe Dienstleister oder Scheinselbstständige mit billigen Werkverträgen füllen die Lücken auf.

Die Winkelzüge, mit denen Arbeitgeber stabile Arbeitsbedingungen aufbrechen und Tarifverträge umgehen, stellt Gewerkschaften seit Jahren vor Herausforderungen. In der Leiharbeit hat die IG Metall sie angenommen: Betrieb für Betrieb hat sie in den letzten Jahren bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen für Leiharbeitnehmer erkämpft und mehr als 1200 Besser-Vereinbarungen abgeschlossen. Die Arbeit ist noch nicht erledigt. Noch immer fehlt es an besseren Gesetzen. Seit Jahren fordert die IG Metall von der Politik, Leiharbeit zu regeln. Dazu gehört die gleiche Bezahlung vom ersten Tag an und die Wiedereinführung des Synchronisationsverbots. Letzteres wurde mit den Hartz-Gesetzen aufgehoben. Bis dahin hatte es verhindert, dass Verleiher Menschen nur für die Dauer eines Einsatzes beschäftigen. Auch beim Lohn muss die Politik aus Sicht der IG Metall eine Haltelinie einziehen. Denn Schlupflöcher finden sich immer. Neben der Leiharbeit haben Arbeitgeber ein neues Instrument entdeckt: Werkverträge. Gegen deren Missbrauch geht die IG Metall in den Betrieben vor.


Täglich bewerben

Der gnadenlose Wettbewerb hat sich längst bis zu jedem einzelnen Arbeitsplatz durchgefressen. Auch Vorgesetzte sind oft Rädchen im Getriebe, fürchten um ihren eigenen Kopf und geben den Druck weiter. Das spürt Sandra Bohnert. Die 55-Jährige arbeitet im Qualitätsmanagment eines Medizintechnikherstellers und möchte ihren richtigen Namen lieber nicht nennen. Wenn Vorgesetzte ihre Sparziele einhalten müssen, beauftragen sie sogar Lieferanten, die schon vor zehn Jahren wegen schlechter Produkte gestrichen wurden. „Da treten dann die gleichen Qualitätsmängel wie damals auf“, sagt die Betriebswirtin. Mit dem Problem muss sie sich herumschlagen, nicht die Entscheider. Sandra würde viel für einen neuen Job geben. „Aber der Arbeitsmarkt gibt es nicht her.“


Doch nicht nur die Angst vor den Falltüren Leiharbeit, Niedriglohn oder Hartz IV lässt Menschen vieles schlucken. Auch im Betrieb können Beschäftigte nach unten rutschen. Stefan Tönes hat es erlebt. Der gelernte Werkzeugmacher, der in Wirklichkeit anders heißt, bildete sich zum Maschinenbautechniker weiter. Zunächst bekam er in der Firma einen passenden Job. Dann fragte er nach mehr Geld. Ganz schnell saß er wieder an einem Arbeitsplatz für Zerspaner. Seine bisherige Tätigkeit solle outgesourct werden, hieß es. „Das ist drei Monate her und nichts wurde verlagert.“ Stefan sucht nach Alternativen. Doch er findet nur Leiharbeit. „Ich habe gedacht: Wenn man lernt, zahlt sich das aus. Aber in manchen Firmen ist man nur noch eine Personalnummer.“

An den Rändern löst sich die Sicherheit auf und im Kern steigt der Druck. Für Klaus Dörre, Soziologe von der Universität Jena, behandeln viele Unternehmen ihre Festangestellten inzwischen wie Spitzensportler. Beinahe jedenfalls. „Im Gegensatz zu Spitzensportlern müssen die Menschen an den Bändern und Schreibtischen das ganze Jahr Höchstleistung bringen.“ Das macht krank. So gaben bei einer IG Metall-Umfrage 40 Prozent der Betriebsräte an, dass Depressionen und Erschöpfung stark zugenommen haben. Für viele Unternehmen kein Grund, einen Gang zurückzuschalten. Mehr als zwei Drittel der Befragten sagte, dass Stress und Leistungsdruck nach der Krise weiter gestiegen sind. Auf Einsicht der Arbeitgeber will die IG Metall nicht länger warten. Sie reagieren auf Gesetze und Vorschriften, wie Umfragen bestätigen. Daher setzt sich die IG Metall für eine Anti-Stressverordnung ein. Darin soll festgelegt werden, was psychische Belastungen ausmacht und wie sie behoben werden.


Tarifverträge durchlöchert

Arbeit um jeden Preis? Das war einmal anders. Im Handwerk galten Tarifverträge lange Zeit als attraktives Angebot, um gute Fachkräfte zu bekommen. Doch mit dem steigenden Druck auf dem Arbeitsmarkt sank der Druck auf Arbeitgeber, Tarife anzubieten. In den vergangenen zehn Jahren haben etwa die Arbeitgeber im Kfz-Handwerk die Bindung an Flächentarifverträge in vielen Bundesländern systematisch durchlöchert.

Die Scherben dürfen heute Menschen wie Karl-Heinz Reidenbach zusammenkehren. Reidenbach ist Betriebsrat in einer Kfz-Werkstatt in Krefeld. „Vor zehn Jahren hatten wir einen Flächentarifvertrag. Heute haben wir Wildwest.“ Der Konkurrenzdruck schlägt auf jeden Arbeitsplatz durch. Jüngere werden nur befristet eingestellt. Sie arbeiten mehr, weil sie übernommen werden wollen. Die Älteren hauen rein, weil sie Angst um ihren Job haben. „Mit Tarifvertrag gab es eine Konkurrenz zwischen guten und schlechten Werkstätten. Heute dreht sich alles um Kosten.“

In Reidenbachs Betrieb gilt die 36,5-Stunden-Woche. Dennoch schloss kürzlich ein neu eingestellter Kollege einen Arbeitsvertrag mit 40 Stunden ab. Der Betriebsrat fragte ihn, warum er das unterschrieben hat. Der Kollege schaute ihn groß an und antwortete: „Ich habe mich verbessert, in meinem alten Betrieb hatte ich eine 44- Stunden-Woche.“

Wo Arbeitnehmer auf Druck des Arbeitgebers schlechtere Bedingungen unterschreiben, greifen klassische Instrumente nicht mehr. Für Oliver Burkhard, IG Metall- Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen, bleibt der Flächentarifvertrag im Kfz-Handwerk zwar oberstes Ziel. Aber nicht um jeden Preis. „Wenn auf einem Tarifvertrag IG Metall steht, muss auch IG Metall drin sein.“ Solange sich die Arbeitgeber hier nicht bewegen, bleibt der Weg über die Betriebe. Für Beschäftigte heißt das: Sie müssen sich das Recht auf tarifliche Bedingungen wieder Betrieb für Betrieb zurückholen.

Manchmal hilft allerdings auch der Chef. Beispiel Autohaus Wolfsburg. Seit fünf Jahren hat die Mannschaft einen Haustarifvertrag. Die beste Aktion dafür hat der Arbeitgeber gemacht, erinnert sich Betriebsrat Helge Fahr. „Nachdem er sein Zukunftspaket vorgestellt hatte, kamen die Leute in Scharen zu uns.“ Darin hatte er eine 40-Stunden-Woche und die Anrechnung von Krankentagen auf den Urlaub angekündigt. Alles Schnee von gestern. Im Wolfsburger Autohaus gilt ein Haustarifvertrag. Fahr ist sich sicher: Ohne den Betriebsrat und die starke IG Metall hätten sie den Tarifvertrag nicht.

Überall in der Republik stemmen sich Metaller gegen den Dammbruch in den Betrieben. Zum Beispiel beim saarländischen Autozulieferer Johnson Controls Schwalbach. Seit Jahren beobachtet Betriebsrat Jörg Jungbluth, wie der Leistungsdruck in der Produktion steigt. Die Arbeit wird dichter, mehr Arbeitsschritte in kürzerer Zeit, die Belastung steigt. Rücken, Handgelenke und Schultern verschleißen im Takt der Maschine. „Das ist Gewinnmaximierung auf Kosten der Leute“, sagt Jungbluth.

Wenn der Betriebsrat nicht mitzieht, droht das Unternehmen mit der Konkurrenz. Doch für Jungbluth gibt es eine rote Linie, die nicht überschritten werden darf: der Tarifvertrag. Bislang konnte der Betriebsrat alle Angriffe abwehren. „Wir hatten die Stärke, uns zu wehren, weil die Belegschaft hinter uns steht. Und weil wir uns im IGMetall-Arbeitskreis mit den Kollegen anderer Zulieferer austauschen. So einfach können Arbeitgeber uns nicht gegeneinander ausspielen.“


Solidarität hilft

Solidarität ist eine starke Waffe. Doch sie muss immer wieder geschärft werden. Für Gewerkschafterin Susanne Kim heißt das: „Mit dem Ohr an der Basis bleiben und Aufbauarbeit in den Betrieben leisten. Kim gehört zum Organizing-Team der IG Metall. Wir gehen zu den Leuten, fragen sie nach ihren Anliegen und entwickeln Ideen, wie sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen etwas verändern können und zwar zum Guten.“
Denn die Gewerkschaft kann mit einem Flächentarifvertrag den Rahmen schaffen. Im Betrieb müssen ihn Beschäftigte immer öfter selbst durchsetzen. Das gilt in neuen Branchen wie der Windenergie, wo Gewerkschaften oft vor verschlossenen Toren stehen. Aber eben auch in traditionellen Bereichen wie dem Kfz-Handwerk. Gerade, wenn der Wind in der Arbeitswelt rauer wird, ist es wichtig, sich zu organisieren. „Die Arbeitgeber sitzen am längeren Hebel“, sagt Kim. „Dagegen kommen wir nur an, wenn wir uns zusammenschließen und ein Gegengewicht auf der anderen Seite des Hebels schaffen.“ Das hilft selbst bei schweren Fällen wie dem Betrieb von Marina Güther in Sachsen. Als der Arbeitgeber die Schichtzuschläge strich, hatten selbst geduldigste Kollegen die Nase voll. Mehr als die Hälfte trat in die IG Metall ein. Sie wählten einen Betriebsrat und Marina zur stellvertretenden Vorsitzenden. Einiges konnten sie bereits verbessern. „Die Kolleginnen sind schon froh, dass sie nicht mehr mit Überstunden drangsaliert werden und Wochenendarbeit jetzt frühzeitig angekündigt wird.“ Auch beim Lohn tat sich was. „Marina etwa kommt jetzt auf 6,50 Euro pro Stunde. Für mich ein Riesenschritt.“

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