IG Metall Konferenz zur Entwicklung in Brasilien
Vom Armenhaus zur Boomregion Südamerikas

Brasilien hat es wie kein anderes Land verstanden, in den vergangenen zehn Jahren von der Globalisierung zu profitieren. Das Besondere und Einzigartige in dem südamerikanischen Land ist die Tatsache, dass auch die Ärmsten vom wirtschaftlichen Aufschwung profitieren.

23. Juli 201223. 7. 2012


Bei der Brasilien-Konferenz der IG Metall Ende Juni berichteten Gewerkschafter aus dem südamerikanischen Land über eine beeindruckende Entwicklung in ihrer Heimat. Seit der Gewerkschafter Luiz Inácio Lula da Silva im Jahr 2003 als Präsident des Landes sein Amt angetreten hat, hat die Regierung umfangreiche Wirtschafts- und Sozialprogramme aufgelegt und das Wirtschaftswachstum angekurbelt. Lula war angetreten, die Armut in seinem Land zu beseitigen. Und auch wenn immer noch viele Menschen in Brasilien in Armut leben, Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit.

Auch zwei Jahre nachdem Lulas Amtsnachfolgerin, Dilma Roussef, zur Präsidentin gewählt wurde, boomt die brasilianische Wirtschaft. Immer noch entstehen Millionen neue Arbeitsplätze, gibt es ein groß angelegtes Wohnbauprogramm und ist die Handelsbilanz nahezu ausgeglichen. Mehr Menschen in Beschäftigung, ein stetig angehobener Mindestlohn und Sozialtransferleistungen für arme Familie haben die Nachfrage nach Gütern des täglichen Bedarfs verstärkt, den Binnenkonsum angekurbelt und wesentlich zum Wachstum des Landes beigetragen.

Dennoch: Brasilien ist immer noch ein Land mit großen Einkommensunterschieden, mehr als 16 Millionen Menschen leben in extremer Armut – sie haben weniger als 30 Euro im Monat zur Verfügung. Für sie hat Rousseff ein neues Programm zur Armutsbekämpfung gestartet: „Kein Elend in Brasilien“. Arme und ärmste Familien bekommen Geldtransferleistungen und einen besseren Zugang zu staatlichen Dienstleistungen wie Erziehung und Gesundheitsversorgung.

Gewerkschaften und Arbeitnehmervertretungen in Brasilien
Auf dem Gebiet der Arbeitnehmerrechte hat Brasilien noch einen gewaltigen Aufholbedarf. Immer noch gelten völlig überholte Gesetze, die die Gewerkschaftsbewegung bremsen. Das Gewerkschaftssystem ist extrem kompliziert, in landesweit bis zu 18.000 einzelnen Gewerkschaften sind rund 16 Prozent der Arbeitnehmer organisiert. Nur etwa die Hälfte der Gewerkschaften gehört einem nationalen Dachverband an. 8.000 der eingetragenen Organisationen haben die Arbeitgeber gegründet. Über diese „Gewerkschaften“ holen sich die Arbeitgeber Geld, das der Staat an die Gewerkschaften verteilt.

Für die finanziellen Mittel, die das Arbeitsministerium verteilt, müssen die Arbeitnehmer aufkommen, ihnen wird eine Gewerkschaftssteuer direkt vom Lohn einbehalten. Sie beträgt einen Tagelohn und muss von jedem Arbeitnehmer mit einem regulären Arbeitsvertrag gezahlt werden. Das Arbeitsministerium verwaltet die Mittel und gibt sie zu 60 Prozent an die Einzelgewerkschaften und zu 20 Prozent an die Dachverbände weiter. Der Rest verbleibt beim Ministerium.

Kein Schutz für gewerkschaftlich aktive Arbeitnehmer
Im Vergleich zu europäischen Verhältnissen haben Gewerkschaften in Brasilien kaum Möglichkeiten, für die Rechte der Beschäftigten zu kämpfen. Arbeitnehmer, die sich gewerkschaftlich engagieren, unterliegen keinem Kündigungsschutz. Gewerkschaftliche Aktivitäten auf dem Betriebsgelände können die Unternehmer jederzeit untersagen und mit Polizeigewalt verhindern lassen. Sehr häufig machen die Werksleitungen von dieser Möglichkeit auch Gebrauch. Betriebsversammlungen müssen meist außerhalb des Werksgrundstückes und selbstverständlich auch außerhalb der Arbeitszeit durchgeführt werden.

In Brasilien beschäftigen 1.200 deutsch-brasilianische Unternehmen etwa 250.000 Menschen. Leandro Candido Soares ist einer von ihnen. Er ist bei ZF in Brasilien beschäftigt und engagiert sich im brasilianischen Metallgewerkschaftsverband CNM/CUT. Als er im Jahr 2007 anfing, bei der Gewerkschaft mitzuarbeiten, reagierten seine Vorgesetzen prompt: Als Schichtleiter hätte er ihrer Meinung nach zu viel Kontakt zu den Arbeitern gehabt, der in ihren Augen potentielle Unruhestifter wurde so gut es ging von den anderen Beschäftigten isoliert.

Vom potentiellen Störenfried zum Vermittler
Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt. Das Management hat eingesehen, dass Leandro als Gewerkschafter auch zum Betriebsfrieden beitragen kann. In der Folge wurde er wieder in der Produktion eingesetzt, seine Vorgesetzten gestehen ihm jetzt sogar zu, dass er seine Arbeitszeit flexibel gestalten kann, um seine gestaltende Funktion als Gewerkschafter wahrnehmen zu können.

Der 30jährige hat als Arbeiter und als Gewerkschaftsvertreter miterlebt, wie der Aufschwung bei den Menschen und in den Betrieben in Brasilien angekommen ist und das Leben verändert hat. Bis vor vier, fünf Jahren forderten die Beschäftigten noch bessere Transportmöglichkeiten für den Weg zwischen Wohnung und Arbeitsplatz, etwa durch den Einsatz von Betriebsbussen. Davon ist heute keine Rede mehr, erzählt Leandro. Heute wird der Ausbau der Parkplätze im Umfeld der Fabriken gefordert – viele Arbeitnehmer können sich inzwischen ein eigenes Auto leisten und die Parkplätze sind knapp geworden.

São Paulo ist mit rund 800 deutsch-brasilianischen Unternehmen der größte Standort der deutschen Wirtschaft außerhalb Deutschlands. Volkswagen, Daimler, Siemens, ThyssenKrupp, Bosch, Leoni, Stihl oder ZF – die Liste deutscher Unternehmen aus der Metall- und Elektrobranche mit Niederlassungen in Brasilien ist lang. Einer, der den Wirtschaftsaufschwung in seinem Land in den letzten Jahren aus Sicht eines Gewerkschafters miterlebte, ist Valter Sanches. Bis 2004 war er fast 15 Jahre lang im Mercedes-Werk in Sao Bernardo da Campo beschäftigt, ehe er Spitzenfunktionär in der brasilianischen Metallarbeitergewerkschaft CUT wurde. Seit 2008 ist Sanches Aufsichtsratsmitglied der Daimler AG als gewerkschaftlicher Arbeitnehmervertreter.

Die deutschen Firmen in Brasilien, so hat Sanches festgestellt, sind in Punkto Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsrechte auch nicht besser als brasilianische Unternehmen. In den vergangenen Jahren wurden auch in den Werken deutscher Firmen immer wieder gewerkschaftlich aktive Kollegen unter Druck gesetzt, Gewerkschaftsvertreter entlassen und Gewerkschaftsaktionen, zum Beispiel Kundgebungen, mit Polizeigewalt unterbunden.

Gute und schlechte Firmen für Gewerkschaftsarbeit
Dennoch: in einigen deutschen Unternehmen hat Gewerkschaftsarbeit eine gute Tradition und ist mittlerweile etabliert. Internationale Netzwerke der Beschäftigten haben wesentlich zum Erfolg der Arbeitnehmervertretungen beigetragen.

Beispielsweise bei Volkswagen und Daimler: In diesen Betrieben gibt es einen Welt-Betriebsrat, seit 2002 gilt eine internationale soziale Rahmenbetriebsvereinbarung und in allen Werken gibt es Arbeitnehmer- oder Gewerkschaftsvertretungen. Auch bei ThyssenKrupp und ZF haben die Arbeitnehmer schon einiges an Mitbestimmung erreichen können. In allen Betrieben gibt es Gewerkschaftsvertreter und es finden regelmäßige Verhandlungen statt.

Mahle und Bosch hingegen praktizieren noch disziplinäre Maßnahmen gegen Gewerkschaftsvertreter. Das kann bis hin zur Entlassung von Kollegen gehen. Auch wenn bei den beiden deutschen Autozulieferern bereits in allen Betrieben Gewerkschaftsvertreter gewählt wurden, unterliegt deren Arbeit vielen Einschränkungen von Seiten des Managements. Schlusslicht beim Respekt von Arbeitnehmerrechten sind die Maschinenbauer Nagel und Grob und der Zulieferer Brose. In den Werken dieser drei Unternehmen sind Gewerkschaftsvertretungen kaum erlaubt, gewerkschaftlich Aktive müssen mit Entlassungen oder disziplinären Maßnahmen rechnen und Gewerkschaftsversammlungen werden mit Polizeigewalt aufgelöst.

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