Eine Klasse für sich: Ausbildung für jedes Alter
Abenteuer Ausbildung nach vielen Jahren Beruf

Nach Jahren Beruf wieder die Schulbank drücken? Zwölf Beschäftigte des Automobilzulieferers KWH im badischen Gaggenau wagten noch einmal das Abenteuer Ausbildung zum Facharbeiter. Der Beginn einer Erfolgsgeschichte, an die nicht immer alle geglaubt hatten.

24. August 201124. 8. 2011


Der Geruch nach Bohnerwachs, die Stühle, die Tische, die Tafel. Für einen Moment fühlte sich Dieter Cyron um ein Vierteljahrhundert zurückversetzt. Er war wieder Schüler. Der gelernte Schreiner hatte sich entschlossen, eine Ausbildung zum Fertigungsmechaniker zu machen. Nun saß er mit 42 Jahren in der Schule, schaute an die Tafel, hörte seiner Lehrerin zu und schrieb Klassenarbeiten. Es war alles genau wie damals in seiner alten Schule, und doch ganz anders. „Mit 16 denkt man, hoffentlich ist die Stunde bald rum. Ich will ins Freibad. Mit Anfang 40 denkt man, diese Chance bekommst du nicht noch einmal. Nutze sie.“

Das Abenteuer Schulbank 40plus begann für Dieter vor zwei Jahren. Sein Betrieb, der Automobilzulieferer KWH im badischen Gaggenau, steckte tief in der Krise. Es drohte Kurzarbeit, vielleicht sogar Entlassung. Wäre es soweit gekommen, hätte er als Schreiner im Metallbereich kaum etwas Vergleichbares gefunden – trotz jahrelanger Berufserfahrung. Warum also nicht in die Schule gehen, statt in die Kurzarbeit?


Eine eigene Klasse

Den Arbeitgeber hatten IG Metall und Betriebsrat schnell überzeugt. Ein Förderprogramm der Arbeitsagentur übernahm den größten Teil der Kosten. Die zwölf Teilnehmer standen zwei Jahre nur mit einem Zuschuss auf seiner Gehaltsliste. Und danach bekäme er fertige Facharbeiter zurück. Auch die Berufsschule war sofort dabei. Die Umschüler sollten in eine eigene Klasse kommen. Die Idee fand Claudia Peter, Bevollmächtigte der IG Metall in Gaggenau, einfach logisch. Einzige Bedingung für die eigene Klasse: Es mussten mindestens 20 Schüler sein. Zu den zwölf KWHler gesellten sich Kollegen aus Nachbarbetrieben und fünf Arbeitslose.


 

Ausbildung für jedes Alter: Eine Klasse für sich
Alle diese 20 „Schüler“ bestanden ihre Ausbildung zum Fertigungsmechaniker. In der Mitte: die Klassenlehrerin. Links daneben: Claudia Peter von der IG Metall in Gaggenau.


Alles lief prima, bis, ja bis der Tag kam, an dem die 20 bei der Arbeitsagentur zum psychologischen Test antreten mussten. Am Computer sollten sie Fragen beantworten und räumliches Denken beweisen. Einige gerieten ins Schwitzen. „Natürlich beherrschen wir räumliches Denken. Sonst könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Aber die Testsituation war ungewohnt“, sagt Dieter. Immer wieder fragten die Prüflinge nach. Immer unwirscher reagierte die Testleiterin. Viele zweifelten an ihrer Entscheidung. Ein halbes Dutzend bekam von der Arbeitsagentur den Stempel: „Für die Umschulung nicht geeignet.“ Als ein Kollege aufgeben wollte, sagte Dieter ihm: „Das schaffen wir schon. Wir helfen uns gegenseitig.“


Das Lernen lernen 

Unglaublich, unfassbar. Noch heute sucht Claudia Peter nach Worten, wenn sie an den Test und das Urteil der Psychologin denkt. Von ihrem Ziel brachte sie der Rückschlag nicht ab. Sie griff zum Telefon und machte einen Termin mit dem Direktor der Arbeitsagentur. In einer Zeit, in der alle vom lebenslangen Lernen reden, sollten Menschen sich nicht mehr fortbilden können? „Dann müssen wir 50-Jährigen eben helfen, das Lernen wieder zu lernen.“ Hoffnung setzte sie auf die gemeinsame Klasse. Die Kollegen würden sich gegenseitig mitziehen, da war sich Claudia sicher. Die Arbeitsagentur bewilligte schließlich die Fördermittel. Zunächst allerdings auf Zeit. Nach fünf Monaten sollten die Leistungen der Schüler bewertet werden. Wer nicht mithalten konnte, sollte die Klasse verlassen. Doch dazu kames nicht. Alle 20 schafften diese Hürde und noch viel mehr.

Zum Beispiel Alois Becht. Mit seinen 55 Jahren war er der Älteste in der Klasse. Lange Zeit zögerte er, ob er das Abenteuer Ausbildung noch einmal wagen sollte. „Meine letzte Schulstunde lag schließlich 38 Jahre zurück.“ So waren seine ersten Schritte als Schüler schön, aber auch hart. Er lernte ständig, selbst am Wochenende. „Der Zusammenhalt in der Gruppe hat mir geholfen.“ Jeder konnte eine Sache besonders gut, und hat sie anderen erklärt. Wem ein Fehler auffiel, machte die anderen darauf aufmerksam. Nach einer Weile spornten sich die späten Schüler zu immer neuen Höchstleistugen an.

Marco Salvos Augen leuchten, wenn er an den Zusammenhalt in der Klasse denkt. „Das war irre. Wir waren so gut, dass wir uns am Ende über eine 2,5 geärgert haben.“ Der 36-Jährige arbeitete bis vor zwei Jahren bei Harman Becker. Die Produktion wurde nach Ungarn verlagert und 950 Leute mussten gehen. Als die Arbeitsagentur ihm die Umschulung anbot, überlegte er nicht lange.


Alle für einen

Sie lernten zusammen, lösten gemeinsam Aufgaben und traten füreinander ein. Etwa wenn Kollegen wie Gregor Fredyk an der Sprache scheiterten. Am Anfang verstand der 45-Jährige nur Bahnhof. Sein Deutsch reicht aus, um sich mit den Kollegen zu unterhalten. Aber eine komplizierte Textaufgabe verstehen? Da brauchte er doppelt so lange wie seine Kollegen. Beim ersten Deutschtest zitterten ihm die Hände. Bei solchen Problemen sprachen Alois und Dieter – die Klassensprecher – mit den Lehrern. Als sie einen Lückentext bekamen, erklärten sie der Lehrerin: „Das können unsere ausländischen Kollegen nicht.“ Danach kam kein Lückentext mehr.

Eine neue Situation auch für die Lehrer. Die meisten hatten es sonst mit 17-Jährigen zu tun, die frisch von der Schule kommen. Nun saßen ihnen mehrere Jahrzehnte Berufserfahrung gegenüber. Da kam es auch schon mal vor, dass die Schüler ihrem Lehrer erklärten, wie ein technischer Prozess funktioniert.

In den Familien lief ebenfalls manches anders. Zu Hause lernten Gregor und Alois gemeinsam mit ihren erwachsenen Töchtern. Nur hörten jetzt die Väter zu, nicht die Kinder.


Auf dem neuesten Stand

Zwei Jahre büffeln, pauken und schwitzen zahlten sich schließlich aus. Anfang Juni bekamen sie ihre Abschlusszeugnisse. Alle 20 haben bestanden. Alle mit guten Noten. Fünf von ihnen wurden für besonders gute Leistungen ausgezeichnet. Alois hält sein Zeugnis in der Hand: Abschlussnote 2,3. Zufriedener Stolz steht in seinem Gesicht. Dann sagt er, und es klingt, als würde er immer noch über sich selbst staunen: „Man gehört zum alten Eisen und ist trotzdemauf dem neuesten Stand.“

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