Vereinbarkeit: Über Arbeit und Leben selbst bestimmen
Zu wenig Zeit zum Leben?

Viele Beschäftigte arbeiten heute so lange, dass für alles andere Wichtige im Leben nicht mehr viel Zeit und Energie bleibt. Zu einem selbstbestimmten Leben sollten auch selbstbestimmte Arbeitszeiten gehören, finden immer mehr Menschen.

31. Juli 201531. 7. 2015


„Vor die Sonne der 35-Stunden-Woche haben sich Wolken geschoben“, sagte Jörg Hofmann, der Zweite Vorsitzende der IG Metall, auf einer Veranstaltung mit 500 bayerischen Metallerinnen und Metallern in Nürnberg. Er spielte auf die Sonne mit der „35“ an, die in den 1980er- und 1990er-Jahren auf Tausenden Plakaten strahlte und in der Bevölkerung bekannter war als der berühmte bunte Hund.

Kaum war die 35-Stunden-Woche nach langen, harten Kämpfen in der westdeutschen Metallindustrie durchgesetzt, „kamen die Zeitdiebe“, sagt Hofmann. Viele Firmen reagierten auf die kürzeren Arbeitszeiten, indem sie sie flexibler gestalteten. In der Folgezeit mussten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sich zunehmend dem Druck von Auftragslagen und Kundenwünschen beugen. Schleichend wurden die Arbeitszeiten wieder länger. Das Leben wurde immer mehr von betriebswirtschaftlichen Interessen diktiert.

Die tarifliche Arbeitszeit beträgt in der westdeutschen Metallindustrie nach wie vor 35, in der ostdeutschen 38 Stunden. Aber tatsächlich wird im Osten wie im Westen im Durchschnitt inzwischen rund 40 Stunden gearbeitet. Dabei werden viele Stunden nirgendwo registriert, nicht bezahlt oder durch Freizeit ausgeglichen. Stunden, die über eine bestimmte im Betrieb festgelegte Zeit hinausgehen, werden „gekappt“, also behandelt, als wären sie gar nicht geleistet worden. Sie sind verschenkt.

In der Gesamtwirtschaft verfallen auf diese Weise mehr als eine Milliarde Arbeitsstunden pro Jahr. Als wären die Bundesbürger versessen darauf, ihr Leben total dem Betrieb zu weihen – ohne Rücksicht auf Familie, Freunde und Gesundheit. Dass dem nicht so ist, hat die große Beschäftigtenbefragung der IG Metall gezeigt. Danach würden 45 Prozent am liebsten 35 Stunden arbeiten, fast jeder Vierte noch weniger und nur gut 16 Prozent 40 Stunden.


Das Problem

„Wem gehört meine Zeit?“ Unter dieser Überschrift wird zurzeit in allen Bezirken der IG Metall über die Arbeitszeiten diskutiert. Bisher lautet die Antwort zu häufig: in erster Linie meiner Firma. „Der Wettbewerbsdruck und die Leistungsanforderungen sind in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen – und das bei oft zu knapper Personaldecke“, sagt Hilde Wagner, Arbeitszeitexpertin im Tarifressort beim IG Metall-Vorstand. „Viele Beschäftigte sind permanent überlastet.“ Unter solchen Bedingungen ufert die Arbeitszeit aus. Arbeitszeitkonten laufen über, weil keine Zeit ist, die Plusstunden durch Freizeit abzubauen.

In einer Umfrage des Netzwerks Xing antworteten 45 Prozent derer, die daran teilnahmen, ihr Arbeitgeber verlange von ihnen Flexibilität über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus. 52 Prozent können aber ihre Arbeitszeit nicht selbst gestalten. Flexibel zu arbeiten macht den meisten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern nichts aus, hat die Beschäftigtenbefragung der IG Metall gezeigt. Aber wenn, dann darf das Privatleben nicht auf der Strecke bleiben.


Die Lösung

Die IG Metall wäre nicht die IG Metall, würde sie ein Thema, das Beschäftigte so stark bewegt, nicht anpacken. Unter den Slogans „Selbstbestimmung“, „Zeitsouveränität“, „Zeitwohlstand“, „Balance zwischen Arbeit und Leben“, „Vereinbarkeit von Arbeit und Familienleben“ und „alternsgerechte Arbeitszeit“ diskutieren Metallerinnen und Metaller, wie neue, moderne, humane Arbeitszeiten aussehen und gestaltet werden können.

Es geht darum, über die eigene Zeit mehr als bisher verfügen zu können. Um Zeit für die Familie, Freizeitinteressen, Qualifizierung, Ausspannen oder flexiblen Einstieg in die Rente. Es geht um Arbeitsbedingungen, die die Gesundheit erhalten. Um Gerechtigkeit: Jeder muss Arbeit, die er leistet, vergütet bekommen. Und es geht um sichere Arbeit; dazu bedarf es Chancen auf berufliche Weiterentwicklung und Bildungsteilzeit.

„Damit aus Selbstbestimmung keine (Selbst-)Ausbeutung wird, brauchen wir aber einen gesetzlichen, tarifvertraglichen und betrieblichen Gestaltungs- und Schutzrahmen“, sagt Jörg Hofmann. Arbeit muss begrenzt werden. Arbeitszeit darf nicht gekappt werden und verfallen. Beschäftigte dürfen mit der Arbeit nicht bis ins Privatleben verfolgt werden; sie müssen das Recht haben, auch mal nicht erreichbar zu sein. Sie brauchen mehr individuelle Wahlfreiheit, um die Arbeitszeiten an ihre Bedürfnisse in unterschiedlichen Lebensphasen anzupassen, zum Beispiel, wenn sie Kinder und Berufstätigkeit vereinbaren wollen.

In der Diskussion ist eine „kurze Vollzeit“, die ermöglicht, die Arbeitszeit temporär zu verkürzen. Sie brächte Menschen mehr Wahloptionen. Die IG Metall will eine arbeitszeitpolitische Initiative starten. Wohin die Reise geht, entscheiden die Delegierten auf dem Gewerkschaftstag im Oktober.

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