Interview mit HSI-Experten zum Bürokratieabbau
Etikettenschwindel „Bürokratiebremse“

Die Bundesregierung hat sich eine „Bürokratiebremse“ verordnet. Neue Gesetze sollen die Wirtschaft nicht zusätzlich belasten. Die IG Metall befürchtet, dass auch Vorhaben zum Wohl der Allgemeinheit auf der Strecke bleiben. Arbeitsrechtler Johannes Heuschmid erklärt, warum die „buchhalterische ...

10. Juli 201510. 7. 2015


... Herangehensweise“ zum Bremsklotz für den sozialen Fortschritt werden kann.

Im Juli ist das Bürokratieentlastungsgesetz in Kraft getreten. Begleitend hat sich die Bundesregierung verpflichtet, die Belastungen für die Wirtschaft durch neue Gesetzesvorhaben nach der sogenannten „One in, one Out“-Regel nicht zu erhöhen. Wie soll das funktionieren?

Johannes Heuschmid*: Die Bundesregierung hat sich auf der Basis einer Selbstverpflichtung darauf verständigt, dass die einzelnen Ministerien bei Gesetzgebungsvorhaben, die den sogenannten. Erfüllungsaufwand beziehungsweise die Kostenbelastung der Wirtschaft erhöhen, für gleichwertige Entlastungen zu sorgen haben. Im Klartext: Wird eine gesetzliche Regelung ins Kabinett gebracht, die zu mehr Kosten für Unternehmen führt, muss an anderer Stelle dereguliert werden. Zur Umsetzung wird für jedes Ministerium ein „Bürokratiekonto“ geführt, das spätestens am Ende der Legislaturperiode auf null stehen soll.

Bürokratieabbau klingt ja erst einmal gut. Die IG Metall befürchtet aber, dass die „Bürokratiebremse“ genutzt wird, allgemeinwohlorientierte Regelungen zu verhindern und geltende Standards zu schleifen. Wo ist der Haken?
Heuschmid: Zunächst einmal ist der Name „Bürokratiebremse“ ein Etikettenschwindel. Denn die „One in, one Out“-Regel unterscheidet nicht zwischen sinnvoller Regulierung und unnötiger Bürokratie. Vielmehr steht fortan jegliche auch aus Allgemeinwohlgesichtspunkten notwendige Regulierung unter Bürokratiekostenverdacht. Problematisch ist darüber hinaus, dass allein der Erfüllungsaufwand für die Wirtschaft im Fokus steht und positive gesellschaftliche Auswirkungen von Regulierung ignoriert werden. Diese buchhalterische Herangehensweise wird den komplexen Aushandlungsprozessen in einer Demokratie nicht gerecht – letztlich stellt der Gesetzgeber so seinen eigenen Gestaltungsanspruch in Frage. Die Befürchtungen sind vor diesem Hintergrund absolut nachvollziehbar.

Welche Gesetzesvorhaben könnten davon konkret betroffen sein?
Heuschmid:
Betroffen sind formale Bundestagsgesetze aber auch Rechtsverordnungen – das gilt selbstverständlich auch für die Arbeits- und Sozialgesetzgebung, wo es gerade Aufgabe des Gesetzgebers ist, zum Wohl der Allgemeinheit das Handeln der Wirtschaft in geordnete Bahnen zu lenken. Konkret könnten Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag betroffen sein wie die Einführung des Equalpay-Grundsatzes und die Höchstüberlassungsdauer für die Leiharbeit, das Entgeltgleichheitsgesetz oder die Revision der Arbeitsstättenverordnung.

Ist es denn möglich, die Kosten eines geplanten Gesetzes und das Einsparpotenzial bestehender Regelungen so genau zu beziffern, um sie gegeneinander aufrechnen zu können?
Heuschmid:
Es ist mehr als fraglich, ob sich die Kosten komplexer Vorhaben seriös beziffern lassen. Das hat die Bundesregierung beim Mindestlohn übrigens auch explizit so dargestellt. Dort wurde im Rahmen einer Ausschussdrucksache darauf hingewiesen, dass „eine belastbare Berechnung des Erfüllungsaufwands nicht möglich ist“. Ein Befund, der durch wissenschaftliche Studien belegt wird.

Wie wird sich das Gesetz auf die künftige Gesetzgebung auswirken?
Heuschmid: Grundsätzlich ist zu befürchten, dass durch die „One in, one Out“-Regel soziale Innovationen erschwert beziehungsweise gänzlich verhindert werden. Insbesondere ist fraglich, ob auf dieser Basis die Unternehmen tendenziell belastende Schutzvorschriften für die Beschäftigten, wie etwa Mindestlohn oder Ausbau der Mitbestimmung, politisch noch umgesetzt werden könnten. Man kann sagen: Seit dem 1. Juli steht soziale Innovation unter kostenmäßigem Rechtfertigungsvorbehalt.



* Dr. Johannes Heuschmid ist Arbeitsrechtler und stellvertretender Leiter des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht in Frankfurt am Main. Das Institut ist Teil der Otto Brenner Stiftung
der IG Metall.
Neu auf igmetall.de

Newsletter bestellen