Gedia Automotive Group in Attendorn
Stress erfahrbar machen – um ihn zu reduzieren

Stress ist ein schwer greifbares Phänomen. Doch viele Beschäftigte leiden darunter. Was kann man dagegen unternehmen?

30. November 201630. 11. 2016


Darüber hat sich der Betriebsrat der Gedia Automotive Group im sauerländischen Attendorn Gedanken gemacht und gemeinsam mit dem Team des betrieblichen Gesundheitsmanagements „fit for work“ eine Idee entwickelt. Sie bauten einen Stresstunnel. Beschäftigte und Geschäftsführung kamen so miteinander ins Gespräch.

Viele der 800 Beschäftigten, überwiegend Angestellte, sprachen den Betriebsrat immer wieder auf die Themen Stress und Stressprävention an. Doch die Geschäftsführung wiegelte ab. Also startete das ffw-Team eine Befragung, um die Stressfaktoren der Mitarbeiter zu identifizieren. Doch der Rücklauf der Fragebögen war gering, das Ergebnis nicht repräsentativ.

So kam der Betriebsratsvorsitzende Thorsten Wottrich auf die Idee, erst einmal Stress erlebbar zu machen, um dann über ihn reden zu können. Eine Arbeitsgruppe aus Mitgliedern des Betriebsrats und der Jugendvertretung schraubte aus Dachlatten 27 standfeste Holzrahmen zusammen – 150 Zentimeter breit, 206 hoch – und bespannte sie mit weißer und schwarzer Folie. Das geschah heimlich und nach Feierabend. „Wir wollten die Kollegen überraschen.“

 


Der Stresstunnel bei Gedia in Attendorn. (Foto: Thorsten Wottrich)

Bei Gedia findet jährlich ein Aktionstag zu Gesundheitsthemen statt. 2013 ging es um Stress, in diesem Jahr wurde erstmals der Stresstunnel aufgebaut, was sich wie ein Lauffeuer im Betrieb herumsprach: Der Eingang ist breit, einladend und hell, es kommen die weißen Wände zum Einsatz. Der Tunnel windet sich, den Besuchern soll die Orientierung erschwert werden. Es folgen die schwarzen Wände, der Tunnel verengt sich, die Stimmung wird gedrückt.

 

Der Tunnel endet in einer Sackgasse

An den Wänden des Tunnels hängen sieben großformatige Zeichnungen, die Stress illustrieren: zum Beispiel ein sich endlos drehendes Förderband mit verschiedenen Akten: Der Werdegang vom Azubi zum Angestellten, später zum Workaholic und Alkoholic – und ein in Arbeit Ertrinkender. Zudem gibt es zehn umfunktionierte Gebots-, Verbots- und Warnschilder, sie stehen beispielsweise für „Nichts sehen, hören, sagen“, „Keine Familienzeit“ und „Druck von oben“.

Dazwischen stehen Brainstorming-Wände: Auf diesen stehen Begriffe wie „Arbeitsplatz“, „Leistungsdruck“ und „Überforderung“. Die Besucher können auf Karten persönliche Beispiele beschreiben und aufkleben – anonym. Am Ende verengt der Tunnel sich weiter und endet als Sackgasse. Auf den letzten beiden Wänden liegt ein Deckel, in den das Wort „HELP“ eingestanzt ist. Es gibt einen Ausgang, aber der ist versteckt.

 

Gemeinsam Lösungswege gesucht

Insgesamt 280 Angestellte durchquerten den Stresstunnel. Danach gingen Betriebsrat und Geschäftsleitung durch den Stresstunnel, diskutierten über die genannten Stressfaktoren und suchten gemeinsam Lösungswege – und fanden diese auch: Aus den Brainstorming-Wänden wurden To-do-Listen, es folgten Infoveranstaltungen zur Kinderbetreuung und zur Pflege von Angehörigen sowie Workshops zu Zeitmanagement und Burnout. „Stressbewältigung“ gehört inzwischen zum Standard der Führungskräfteschulung bei Gedia.

Einem großen Publikum wurde der Stresstunnel auf dem Deutschen Betriebsrätetag Ende Oktober 2015 bekannt. Im alten Bundestag in Bonn wurden 14 für den Betriebsrätepreis nominierte Projekte vorgestellt. Das GEDIA-Projekt „Stresstunnel – Stress muss nicht in einer Sackgasse enden!“ gewann den zweiten Publikumspreis und den zweiten Sonderpreis „Innovative Betriebsratsarbeit“. Erhard Tietel, Professor am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen, lobte die Arbeitnehmervertretung aus Attendorn: „Mit der Gestaltung eines begehbaren Stresstunnels hat der Betriebsrat der Gedia Automotive Group eindrucksvoll gezeigt, wie innovativ und kreativ betriebliche Mitwirkung heute sein kann.“

Inzwischen kann man den Stresstunnel sogar mieten, er steht interessierten Unternehmen zur Verfügung. Zum Aufbau und Einsatz des Stresstunnels hat der Gedia-Betriebsrat ein 14-seitiges Handbuch geschrieben. Aus den Dachlattenwänden sind Holzplatten geworden. Sie wiegen 886 Kilo und werden reisetauglich in einer großen Holzkiste verpackt.