7. Oktober 2020
Entgeltrahmenabkommen
„Grundsätzlich sind ERA-Tarifverträge gut für Frauen“
Auf dem Papier ist die Bezahlung von Frauen und Männern innerhalb des Entgeltrahmenabkommens (ERA) gleich geregelt. Die Tarifexpertin Sophie Jänicke erklärt im Interview, warum Frauen häufig dennoch bei der Bezahlung zu kurz kommen und wie die IG Metall sowie die Betriebsräte Frauen unterstützen.

„Wir haben ERA und bezahlen alle gleich“ – dieser Satz ist oft zu hören. Eine unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern ist mit dem Entgeltrahmenabkommen (ERA) ausgeschlossen?

Sophie Jänicke: Vieles ist mit ERA besser geworden. Gerade in großen Betrieben, in denen die Tätigkeiten bei der ERA-Einführung einmal ordentlich eingruppiert wurden, stimmt der Satz wahrscheinlich. Beschäftigte bekommen automatisch das tarifliche Entgelt, das ihnen zusteht – egal ob Männer oder Frauen den Job machen.

Grundsätzlich ist in Betrieben mit Tarifvertrag die Entgeltlücke zwischen Männern und Frauen deutlich geringer als ohne – und die ERA-Tarifverträge sind tatsächlich gut für Frauen. Aber völlig ausgeschlossen ist eine unterschiedliche Bezahlung von Frauen und Männern leider immer noch nicht. Die Einführung der Entgeltrahmentarifverträge hat die Unterschiede in der Bezahlung zwar deutlich abgeschwächt, verschwunden sind sie allerdings nicht.

Wir gehen davon aus, dass die bereinigte Entgeltlücke, also der Entgeltabstand zwischen Frauen und Männern, die die gleiche Arbeit machen, immer noch bei circa 8 Prozent liegt. Das liegt vor allem daran, dass Tarifverträge ziemlich abstrakt sind. Damit bieten sie Spielraum für unterschiedliche Interpretationen und lassen persönliche Bewertungen zu. In die fließen bei vielen Menschen immer noch geschlechtsspezifische Vorstellungen ein. Daher besteht auch weiterhin die Gefahr der Diskriminierung von Frauen.

Und wir dürfen nicht vergessen: Eingruppierungsfragen sind immer Machtfragen – je stärker die Belegschaft organisiert ist und je mehr Rückhalt der Betriebsrat hat, desto stärker ist seine Verhandlungsposition und Durchsetzungskraft. Das gilt auch bei der betrieblichen Entgeltgestaltung.
 

Tarifexpertin Sophie Jänicke, IG Metall Vorstand


Wie werden „Frauen“- und „Männerberufe“ in ERA bewertet? Gibt es Unterschiede?

Grundsätzlich machen die ERA-Tarifverträge keine Unterscheidung zwischen „Männer“- und „Frauenberufen“. Die Tätigkeit der Chefsekretärin wird nach den gleichen Kriterien bewertet wie die des Werkzeugmachers. Es werden Tätigkeiten bewertet und einer Entgeltgruppe zugeordnet, nicht den Menschen, die sie ausüben. Das ist in der Praxis allerdings manchmal schwieriger, als es sich anhört.

Tatsächlich erfüllt ERA viele Kriterien für ein diskriminierungsfreies Entgeltsystem. Zum Beispiel werden in ERA einheitliche Anforderungs- und Bewertungskriterien für alle Tätigkeiten angelegt – egal ob sie vorwiegend von Männern oder von Frauen ausgeführt werden. Zudem ist eine hohe Durchlässigkeit der Entgeltgruppen fest verankert. Das bietet Chancen für Frauen, die durch familienbedingte Auszeiten immer noch öfter den Job wechseln als Männer. Und die Tätigkeiten werden ganzheitlich bewertet. Damit bietet ERA alle Chancen, Beschäftigte diskriminierungsfrei einzugruppieren.

Es gibt aber Bewertungsmerkmale, die in ERA weniger berücksichtigt werden, für frauenspezifische Tätigkeiten allerdings sehr wichtig sein können. Psycho-soziale Kompetenzen, die ja für eine qualifizierte Büroassistenz durchaus wichtig sind, sind zum Teil weniger relevant als intellektuelle Fähigkeiten. Das birgt in der Praxis die Gefahr von geschlechtsspezifischer Diskriminierung von Tätigkeiten – manchmal leider auch mit ERA.


Gibt es geschlechterspezifische Fallstricke bei der Eingruppierung, zum Beispiel bei den unterschiedlichen Kriterien von ERA?

Ja, die gibt es. Ein entscheidender ist die Tätigkeitsbeschreibung. Die ist entscheidend, wenn Arbeit mit den Kriterien aus ERA bewertet werden soll.

Denn nur was als Tätigkeit beschrieben ist, kann auch bewertet werden. Daher plädieren wir als IG Metall dafür: Es lohnt sich, eine gute und ausführliche Arbeitsbeschreibung zu machen, damit alle Teil-Tätigkeiten und Anforderungen bei der Bewertung berücksichtigt werden können. Das gilt sowohl für die Ersteingruppierung, zum Beispiel, wenn ein Betrieb neu in die Tarifbindung kommt, als auch wenn Tätigkeiten sich verändern und damit neu beschrieben werden müssen.

Bei der ERA-Einführung merken wir oft: Frauen fällt es häufig schwerer als Männern, alle ihre Tätigkeiten und die dafür notwendigen Fähigkeiten und Fertigkeiten aufzuzählen. Sie neigen da mitunter eher zu Bescheidenheit. Bei der Eingruppierung gilt allerdings das alte Berliner Sprichwort: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch besser jeht et ohne ihr“. Daher gilt gerade bei der Beschreibung von Tätigkeiten, die Frauen ausüben: Immer wieder nachfragen, immer wieder überlegen, ob nicht noch etwas fehlt. Die IG Metall hat Fragebögen entworfen, die dabei helfen können.


Wie sieht es mit der tariflichen Gleichstellung in den Branchen Textil, textile Dienstleistung, Stahl oder Holz und Kunststoff aus?

In all diesen Branchen gelten weitgehend noch relativ alte Lohn- und Gehaltstarifverträge. Darin sind mitunter noch einige Diskriminierungen enthalten. Zum Beispiel werden die Tätigkeiten von technischen Angestellten teilweise automatisch höher bewertet als die von kaufmännischen. Bei Stahl sind die Tarifverträge zum Teil so veraltet, dass man einzelbetrieblich Lösungen gefunden hat, die Tätigkeiten einzugruppieren. Dies hat in der Praxis dazu geführt, dass Diskriminierung von Frauen zumindest entschärft werden konnte. Die IG Metall hat bereits versucht, diese Tarifverträge zu modernisieren. Das ist leider allzu oft am Widerstand der Arbeitgeber gescheitert.


Was können Frauen tun, wenn sie das Gefühl haben, schlechter bezahlt zu werden als vergleichbare Kolleginnen und Kollegen?

Zunächst einmal: Let’s talk about money! „Über Geld redet man nicht“ – dieser Wahlspruch ist bei vielen tief verwurzelt. Aber nur, wenn wir darüber reden, was wir verdienen, können wir dem Nasenfaktor entgegentreten und etwas gegen Eingruppierungs-Ungerechtigkeit tun. Nach dem Entgelttransparenzgesetz haben alle Beschäftigten in tarifgebundenen Betrieben einen Auskunftsanspruch darüber, ob sie das Gleiche wie ihre Kolleginnen oder Kollegen verdienen.

Wenn Frauen das Gefühl haben, sie werden ungerecht bezahlt, können sie sich an den Betriebsrat oder den Arbeitgeber wenden, um zu erfahren, wie viel die anderen verdienen. Dabei kann man auch richtig ins Detail gehen, denn der Verdienst muss nach allen Entgeltbestandteilen aufgeschlüsselt werden. Es ist zum Beispiel möglich zu erfahren, ob Männer bei gleichwertiger Tätigkeit eher als Frauen einen Dienstwagen haben – und welchen! – oder ob sie höhere Leistungszulagen bekommen. Am besten ist es natürlich, wenn man sich mit anderen zusammentut, denen es ähnlich geht, und mit Betriebsrat und IG Metall zusammenarbeitet. Dann hat man die größten Chancen, auch etwas zu verändern.


Welche Tipps hast du für Betriebsrätinnen und Betriebsräte, damit es im Betrieb gleichberechtigt zugeht?

Das wichtigste ist, dass der Betriebsrat beim Thema Entgeltgleichheit genau hinschaut. Denn viele Diskriminierungen sind nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Manchmal findet man es auch selbstverständlich, dass Frauen weniger bekommen: „Sie ist ja schließlich jünger und noch nicht so lange im Betrieb“, ist ein Argument, das ich häufig höre. Aber Alter oder Betriebszugehörigkeit sind grundsätzlich keine Kriterien für die Eingruppierung! Es gilt: Wenn zwei die gleiche Arbeit machen, gehören sie in die gleiche Entgeltgruppe!

Es ist auch eine Frage der Betriebskultur und der Signale, die ein Betriebsrat sendet: Wenn Frauen das Gefühl vermittelt wird, sie sollten sich mal nicht beschweren, denn Frauen seien heute schließlich gleichberechtigt, dann kommen bestehende Diskriminierungen nicht ans Licht. Wenn der Betriebsrat aber deutlich macht: Wir wollen, dass es gerecht zugeht im Betrieb, auch beim Geld und auch zwischen Männern und Frauen – was ja im 21. Jahrhundert eigentlich selbstverständlich sein sollte! – dann gibt das allen die Kraft, Ungerechtigkeiten zu benennen und gemeinsam für Verbesserungen zu kämpfen.

Unbedingt sollten Betriebsrätinnen und Betriebsräte sich einen Überblick über die Entgeltstruktur im Betrieb verschaffen und auch da genau hinschauen, ob es Auffälligkeiten in Bezug auf die Entgelte von Männern und Frauen gibt. Schließlich gehört es zu ihrem Job, die Gleichstellung zu fördern. Nach Paragraf 80 Abs.2 BetrVG haben sie das Recht, Einblick in die Listen über die Bruttolöhne und -gehälter zu nehmen. Der Arbeitgeber ist auch verpflichtet, ihnen diese bei Bedarf zu erklären. Stellt der Betriebsrat fest, dass es Entgeltungleichheit gibt, sollte er das öffentlich machen – auch wenn sich dadurch vielleicht einige auf den Schlips getreten fühlen. Wenn Betriebsrätinnen und Betriebsräte den Rückhalt und das Mandat der Beschäftigten haben, sollten sie darüber mit dem Arbeitgeber in Verhandlungen treten, um diese Ungerechtigkeiten zu beseitigen.


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