Jörg Hofmann: Wieso das denn? Wir sind kerngesund. Weil die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen leidetund am Ende Arbeitsplätzebedroht sind. Wir haben auch in diesem Jahr ein Tarifergebnis eerreicht, das in die Landschaft passt, den Beschäftigten mehr Kaufkraft bringt und damit auch der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage gut tut. Wenn Sie schauen, wo das Wachstum und damit die Beschäftigung herkommen,dann ist das hierzulande vor allem die Nachfrage. Und den Unternehmen geht es gut.
Die Renditen auch.
Die Lohnstückkosten steigen auch nicht überall gleich. Über den Daumen aber um gut 20 Prozent seit der Finanzkrise 2008/2009. Und gleichzeitig haben wir eine eklatante Investitionsschwäche. Es gibt einen Zusammenhang zwischen Investitionen und Nachfrage, insbesondere der Nachfrage in Europa. Wir kommen erst langsam aus der tiefen Krise in Europa heraus. Und Europa ist für die deutsche Metall- und Elektroindustrie mit einem Anteil von rund 80 Prozent der entscheidende Markt.
Der Trend, dass dorthin Produktionen verlagert werden, um diese Märkte zu erschließen, ist weitgehend unabhängig von der Lohnpolitik in Deutschland. Wenn die deutsche Metall- und Elektroindustrie in ihrer Exportfähigkeit sehr gut da steht, dann hängt das mit der Qualität der Produkte und auch mit Wechselkursen oder Rohstoffpreisen zusammen. Wir schauen immer, wie sich die Lohnpolitik auf die Reallohneinkommen und auf die Beschäftigung auswirkt. Und wenn ich auf 2015 zurückblicke, dann gibt es keinen Anlass für eine Korrektur der Lohnpolitik.
Natürlich macht mir das Sorgen. Das ist übrigens ein Motiv für unsere Teilnahme am Bündnis für Industrie, in dem es primär auch um Investitionsbedingungen geht. Wir müssen aber auch registrieren, dass über höhere IT-Anteile mit geringeren Kosten als früher, höhere Produktivitätsgewinne erzielt werden können.
Industrie 4.0 ist zunächst einmal ein Branding für ganz verschiedene Entwicklungen. Da haben wir die Robotik, das Internet der Dinge und die Frage, wie wir zu ganz neuen ganzheitlichen Arbeitsprozessen und Geschäftsmodellen kommen. Es geht jetzt ganz konkret an bestimmte Themen und Fragen: Gibt es offene Standards in Europa, oder beherrschen Intermediäre wie Apple oder Google das Internet der Dinge? Oder: Wie gehen wir mit der Robotik und Komplettautomatisierung, Stichwort: autonomes Fahren, sowohl im Produkt als auch im Prozess um? Grundsätzliche Haftung und Sicherheitsfragen sind da unter anderem zu klären. Die Normative einer solchen digitalen Welt müssen gesellschaftlich debattiert werden. Alles in allem operieren wir heute bei den Themen näher am Hallenboden, als es bei vergangenen Technologiehypes der Fall war.
Erst mal wirkt Industrie 4.0 ganz klassisch als Rationalisierungstechnologie. Es stellt sich die Frage, ob die damit verbundenen Verluste an Tätigkeiten ausgeglichen werden durch neue Produkte, Geschäftsmodelle oder Märkte. Diese Frage kann niemand heute eindeutig beantworten. Wir stellen aber eine Beschleunigung der Veränderungsprozesse fest. Wenn das Rad sich immer schneller dreht, ist die Gefahr da, dass der eine oder andere runterfliegt. Dem begegnen wir am besten mit Anpassung bei den Qualifikationen. Wie orientieren wir Menschen um auf neue berufliche Herausforderungen? Und wie sieht ein Sozialstaat aus, der bei diesem sich schneller drehenden Rad Verlässlichkeit und Sicherheit für jeden ermöglicht?
Sie unterschlagen: Da gibts noch ein Gegenüber. Und die Arbeitgeber tun sich sichtlich schwerer damit, den Menschen Ansprüche auf berufliche Perspektive zuzubilligen. Die entscheidende Frage wird sein, wie wir das Lernen an den Arbeitsplatz kriegen. Bei den Hochqualifizierten ist das nicht das Problem. Aber wenn jemand 20 Jahre am Band steht, wird es schwieriger. Der Industriemechaniker, der einmal eine gute Ausbildung gehabt hat, muss nun aufpassen, nicht abgehängt zu werden.
Wir sind in verschiedenen Projekten unterwegs, um zu klären, wie Industrie 4.0 zur Kompetenzerweiterung am Arbeitsplatz genutzt werden kann. Beispielsweise auch durch den Einsatz von IT-Systemen. Es ist zweifellos eine riesige Herausforderung, die Arbeitsorganisation in den Unternehmen so zu verändern, dass Lernprozesse für alle am Arbeitsplatz normal werden.
Das Motto von damals passt heute auch noch. Die IG Metall hat drei industrielle Revolutionen mitgestaltet und steht jetzt vor der vierten. Immer gab es reichlich Kassandrarufe über das Ende der Arbeit und kollektiver Gegenmacht. Wir haben alles überstanden und werden auch jetzt wieder unsere Politik danach ausrichten, dass in der Industrie 4.0 keiner unter die Räder kommt.
Da gibt es keinen Widerspruch. 2015 haben wir mit dem Thema Bildungsteilzeit und flexible Übergänge in die Rente begonnen und erste Bausteine in Richtung einer neuen Arbeitszeitpolitik gelegt. Bei der Bildungsteilzeit fehlt noch der Entgeltausgleich, damit sich auch jeder Weiterbildung leisten kann. Das Oberthema ist Arbeitszeit innerhalb derer ich mich qualifizieren oder die ich nach meinen individuellen Lebenslagen stärker als bislang anpassen kann.
„Meine Zeit – mein Leben. Arbeit neu denken“: Mit diesem Anspruch werden wir uns beschäftigen und dann entsprechende tarifliche Regelungen anstreben. Denn neben der Einkommensfrage ist die Zeit die zweite Dimension des Erwerbslebens, die den Menschen die Möglichkeiten eines guten Lebens eröffnet.
Durchaus. Wir haben mit dem Qualifizierungstarifvertrag in Baden-Württemberg bereits 2002 eine erste Antwort auf die ganz unterschiedlichen Ansprüche der Arbeitnehmer gegeben. Um da weiterzukommen, brauchen wir ein stärkeres Zusammenspiel von Tarifvertrag, Gesetzgebung und betrieblicher Mitbestimmung.
Die Mitbestimmung als ein Pfeiler der Demokratie ist so faszinierend und für das Erfolgsmodell Deutschland so entscheidend, dass Fortschritte hier nicht von einer einzigen Partei abhängen.
Wir stecken den Kopf nicht in den Sand und schauen weg, wenn dumpfe Fremdenfeindlichkeit zunimmt. Integration in Arbeit, ist das beste Programm gegen Fremdenfeindlichkeit. Die Arbeit kennt keine Religion, nur Kolleginnen und Kollegen. Wir fordern hier die Arbeitgeber auf, noch mehr Gas zu geben. Und: Auf „die da oben“ in der Politik zu schimpfen, das ist zu billig. Solidarisches Handeln aller ist die Alternative. Nicht nach unten treten, gegen die noch Schwächeren, sondern gemeinsam für ein gutes Leben kämpfen, ist unsere Antwort.
Ein gutes Tarifergebnis haben wir ja schon. Und die Mitgliederentwicklung setzt sich auch in diesem Jahr weiter positiv fort. Alles in allem wünsche ich mir die guten Ideen und die Durchsetzungskraft, um den Sozialstaat 4.0 so weiter zu entwickeln, dass möglichst viele Menschen in unserer Gesellschaft gute Arbeit und ein gutes Leben haben.
Gesamtmetall ist ja ein Jahr älter als wir und seit seiner Gründung eine Abwehrorganisation gegen Gewerkschaften. Ohne uns gäbe es sie nicht. Aber die beste Abwehr ist bekanntermaßen der Angriff. Die Einsicht gemeinsam für gute Arbeit, mehr Tarifbindung und Mitbestimmung, die Fortentwicklung des Sozialstaats einzutreten, damit könnte mich Gesamtmetall positiv überraschen.
Das Interview ist am 20. Mai 2016 im Tagesspiegel erschienen, geführt wurde es von Alfons Frese.