1. Dezember 2018
Sylvia Koppelberg
Wirtschaft
Marktgläubigkeit macht blind
Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger erklärt im Interview, warum wir trotz Trump und Brexit zuversichtlich ins neue Jahr blicken können und warum die „Weisen“, die meistens andere Rezepte empfehlen als die Gewerkschaften, aus seiner Sicht nicht immer weise Ratschläge geben.

Unser Eindruck ist, dass der Sachverständigenrat immer dieselben Rezepte anpreist: Unternehmenssteuern runter, weniger Sozial­ausgaben. Wie unabhängig ist er?

Peter Bofinger: Ich habe keine Zweifel an der Unabhängigkeit meiner Kollegen.


Die „Weisen“ fordern oft genau das Gegenteil dessen, was ­Gewerkschaften für richtig halten. Sind Gewerkschafter dumm?

Nein. Das Problem ist, dass wir besonders in den deutschen Wirtschaftswissenschaften eine sehr ausgeprägte Marktorientierung haben. Sie macht blind für die Schwächen des Markts und unterschätzt, welche Einflussmöglichkeiten der Staat hat, um bessere Resultate zu erzielen. Das führt dann zu einseitigen Empfehlungen. Ich vertrete oft andere Einschätzungen und habe darum in der Vergangenheit zahlreiche Minderheitsvoten abgegeben. Ein Beispiel ist der Mindestlohn.

 

Prof. Dr. Peter Bofinger

Prof. Dr. Peter Bofinger (Quelle: Sachverständigenrat).

 

Inwiefern?

Ich habe mich über Jahre hinweg für ihn ausgesprochen, meine Kollegen dagegen. Sie argumentierten, er würde Arbeitsplätze vernichten. Die Erfahrungen zeigen, dass das nicht der Fall war. Auch Steuersenkungen halte ich nicht immer für den Stein der Weisen. Verzichtet der Staat auf Einnahmen, führt das zu Problemen, wie wir sie heute überall erleben, etwa Wohnungsnot, schlecht ausgestattete Krankenhäuser und Schulen.


Die marktorientierten vier „Weisen“ sprechen sich auch gegen eine „lenkende Industrie­politik“ des Staates aus. Die IG Metall ist vehement dafür.

Auch da vertrete ich eine andere Position als die Mehrheit im Sachverständigenrat. Zum Beispiel zur Batteriezellenproduktion. Da stellt sich doch die Frage: Überlassen wir diese wichtige, aber auch kostenintensive Zukunftstechnologie China oder unterstützen die europäischen Staaten den Aufbau einer eigenen Entwicklung und Fertigung. Der chinesische Staat ist industriepolitisch hyperaktiv und erzielt damit große Vorteile im globalen Wettbewerb. Da ist es naiv, darauf zu beharren, dass der Markt alles optimal richtet.


Seit zehn Jahren brummt die ­Wirtschaft, noch nie waren so viele Menschen erwerbstätig.Geht es 2019 so weiter?

Alles spricht dafür. Die Inflation wird niedrig bleiben. Die Zinsen auch, sodass die Kreditbedingungen für die Wirtschaft günstig sind. Die Staaten sparen nicht, sondern setzen Impulse für die Konjunktur. Auch das anhaltende Beschäftigungswachstum und die guten Löhne werden die Inlandsnachfrage stärken. Die Löhne hätten ― gesamtwirtschaftlich ― sogar noch höher ausfallen können; das gilt vor allem für den Mindestlohn.


Vor zehn Jahren löste die Lehman-Pleite die Finanzmarktkrise aus. Die Steuerzahler allein in Deutschland mussten mehr als 68 Milliarden Euro für die Rettung von Banken zahlen.

Aber damit wurden nicht die Banken gerettet, sondern die Einlagen der Bürgerinnen und Bürger bei den Banken. Der Satz: Gewinne werden privatisiert, Verluste verstaatlicht, stimmt in diesem Fall nicht. Die großen Verlierer waren die Anteilseigner der Banken.


Kann so eine Krise 2019 oder in den nächsten Jahren wieder ausbrechen?

Dafür gibt es keine Hinweise. Die Banken sind inzwischen stärker reguliert und besser mit Eigenkapital ausgestattet als damals. Außerdem haben Ökonomen und Bank­analysten Gefahrenpotenziale heute stärker im Fokus.


Kann Donald Trumps unberechenbare Handelspolitik gefährlich werden?

Man sollte die Wirkung von Zöllen nicht überschätzen. Ein starker Euro kann ähnliche Effekte haben. Und mit starken Wechselkursschwankungen, die Produkte aus EU-Ländern verteuert haben, ist die deutsche Wirtschaft bisher ganz gut zurechtgekommen. Ein Vorteil der Trumpschen Politik ist, dass die anderen Länder sich stärker bemühen, ihre Handelsbeziehungen zu verbessern.


Und der Brexit?

Ein ungeregelter Ausstieg wäre vor allem für das Vereinigte Königreich eine Katastrophe. Das Land würde in ein Loch fallen ― mit völlig ungewissen Folgen. Da die Wirtschaft in Europa stark verflochten ist, würde sich ein solcher Ausstieg natürlich auch negativ auf die deutsche Wirtschaft, vor allem die Autoindustrie, auswirken.


In Europa sind Nationalisten und Euroskeptiker auf dem Vormarsch. Was sagt der Ökonom dazu?

Gerade Deutschland ist wie kein anderes Land auf Globalisierung ausgerichtet. Deutsche Unternehmen haben die Exporte in den vergangenen Jahrzehnten in Relation zur Wirtschaftsleistung am stärksten ausgeweitet. Die Wirtschaft hat davon profitiert. Darum müssen wir ein großes Interesse daran haben, Europa zu stärken. Aber es muss ein Europa sein, das seine Bürger im globalen Wettbewerb vor unfairer Konkurrenz schützt. Faire Bedingungen gibt es nur, wenn Europa ― zum Beispiel mit den USA und China ― als starke Einheit verhandeln kann.


Welche Rolle spielt China dabei?

China verhält sich noch viel protektionistischer als die USA. Es pocht gegenüber anderen Ländern auf freien Handel, praktiziert aber im eigenen Land im Umgang mit ausländischen Inves­toren das Gegenteil. Es subventioniert die eigenen Indus­trien mitunter so stark, dass andere Länder im Wettbewerb Nachteile erleiden, wie es beim Stahl drohte, und dass ihnen der Todesstoß versetzt wird, wie wir das in der Solarbranche erlebt haben.


Können die Bürgerinnen und Bürger optimistisch ins neue Jahr schauen?

Es gibt mehr Risiken als Ende 2016 oder 2017, etwa durch den Brexit ― aber alles in allem schon.


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