1. April 2020
Bayern
Der Streik fürs Leben
Vor 25 Jahren haben Hunderttausende Metallerinnen und Metaller im Freistaat Gewerkschaftsgeschichte geschrieben. Drei Beschäftigte erzählen, wie 1995 bis heute wirkt.

Das riesige Megaphon ließ der Hercules-Chef doch lieber auf dem Schrank in seinem Büro. „Er wagte es dann doch nicht, meine Kollegen zum Streikbruch aufzurufen. Stattdessen kam er dann vors Werkstor zum Kaffeetrinken – und fragte, ob wir noch etwas brauchen“, erzählt Ali Inal.

Nürnberg war das Zentrum des legendären Bayernstreiks vor 25 Jahren. Und Ali Inal trug als Vertrauenskörperleiter beim Fahrradfabrikanten seinen Teil dazu bei, ein Desaster der Gewerkschaftsgeschichte auszumerzen.


Das Desaster

1954 endete der erste Streik nach dem Zweiten Weltkrieg für 130 Kollegen im Knast, für Tausende mit einer Maßregelung und für unzählige mit der Kündigung oder auf „schwarzen Listen“ der Arbeitgeber.

41 Jahre später wollte es der Arbeitgeberverband VBM wieder wissen: Während es wirtschaftlich aufwärts ging, spielte er die Leier von „Kostenentlastung“ und längere Arbeitszeit. Seit den 1980er-Jahren hatte sich der VBM vor der 35-Stunden-Woche gedrückt – und selbst in der dritten Tarifverhandlung statt eines Angebots noch Abbaupläne auf den Tisch gelegt.


Gemeinschaft geprägt

„Die Kollegen waren heiß gemacht, sie wollten eine Revanche für 1954“, sagt Ali Inal über die Stimmung. „Jeder hat darauf gewartet, dass etwas passiert“, beschreibt Udo Diehl, der damals als 23-jähriger Wickler Siemens mitbestreikte, die Spannung. „Lieber Freizeit statt Geld und mehr Chancen für Erwerbslose: Das waren die Themen damals“, sagt Roland Weiß, damals Geschirrspüler-Entwickler bei AEG. Doch das Entscheidende für ihn: „Die IG Metall hat die Gemeinschaft geprägt. Und das hat uns stark gemacht.“


Jetzt streikt’s!

Über 217000 Beschäftigte in 525 Betrieben hatten mit Warnstreiks bereits Druck gemacht. Ohne Erfolg. Es kam zur Urabstimmung über den unbefristeten Streik. Und 88,4 Prozent aller Metallerinnen und Metaller machten ihr Kreuz bei „Ja!“.

Die Bedrohung durch Aussperrungen standen im Raum. Doch die mobilisierte eher noch: Allein Anfang März 1995 zogen deshalb 25000 bei Kälte und Regen auf den Nürnberger Hauptmarkt.


Bosse bewegt

Plötzlich, nach zwei Wochen Streik mit 36000 Beschäftigten, bewegten sich die Arbeitgeber doch: Am Ende standen die bis heute gültige 35-Stunden-Woche sowie 3,4 und 3,6 Prozent mehr Geld.

Aber ist damit nur eine Geschichte zu Ende? Nein, sind sich die Streikenden von damals auch heute noch einig, der Bayernstreik habe nachhaltig das gewerkschaftliche Grundgefühl gestärkt.

„Der Bayernstreik ließ uns enger zusammenwachsen. Vertrauensleute und Belegschaften haben gesehen: Wenn wir zusammenrücken, kann man etwas erreichen“, sagt Ali, der heute als freigestellter Betriebsrat bei ZF Gusstechnik arbeitet. „Wir müssen als Gewerkschafter beides können: moderieren, aber auch die Keule ziehen!“


Erkenntnisse

„Streik ist kein Selbstzweck“, sagt Udo Diehl, heute Betriebsrats-Sekretär bei Siemens Power and Gas. „Vor dem Erreichen kommt das Erklären der Ziele. Und das Erreichen geht nur miteinander.“

Ganz persönlich hat der Bayernstreik Roland Weiß, heute Werksfeuerwehrler bei Bosch, geprägt: „Gegeneinander geht nichts.“ Er ist noch immer fasziniert von der internationalen Solidarität von damals im Betrieb. „Ich erkannte 1995, dass die ›Ausländer‹ im Betrieb vor allem eines sind: Arbeitskollegen!“ Viel sei seit damals gewachsen. „Statt Unterschieden lebten wir die Gemeinsamkeiten und erreichten etwas. Das begleitet mich bis heute: egal ob im Verein – oder auch in der Ehe.“

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Fotos (2): Werner Bachmeier
Heute wie gestern gültig: Banner vor dem AEG Hausgeräte-Werk in Rothenburg
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Streiklokal im Bierzelt: Urabstimmung am 7. März 1995 bei MAN in Augsburg
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Gestern und heute: Ali Inal 1995 vor dem Werkstor der Fahrrad-Fabrik Hercules und 2020 im Betriebsratsbüro von ZF Gusstechnologie
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Lernte Zusammenhalt: Roland Weiß
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„Streik kein Selbstzweck“: Udo Diehl
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