19. November 2019
OBS-Preis für kritischen Journalismus
Ludwig Erhard vom Sockel stoßen
Seit 15 Jahren zeichnet die Otto Brenner Stiftung herausragende journalistische Arbeiten aus. Den diesjährigen Sonderpreis erhält die Publizistin Ulrike Herrmann. Ihr Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen“ wirft einen neuen Blick auf die deutsche Wirtschaftsgeschichte.

Frau Herrmann, Sie beschreiben die deutsche Wirtschaftsgeschichte seit 1945. Was ist die zentrale These Ihres jüngsten Buches?

Herrmann: In Deutschland dominieren fünf Mythen, wenn es um die Wirtschaft geht: Die Bundesrepublik hat nach dem Krieg angeblich ein Wirtschaftswunder erlebt, das es nur hierzulande gab. Ludwig Erhard soll der Vater dieses Wirtschaftswunders gewesen sein. Deutschland soll eine einzigartige soziale Marktwirtschaft besitzen. Die Bundesbank gilt als unfehlbar, und Exportüberschüsse sollen Deutschland reich gemacht haben. Diese fünf Glaubenssätze haben mit der Realität nichts zu tun, wie ich in meinem Buch erkläre.

 

Ulrike Herrmann (Foto: Herby Sachs)


Geben Sie uns ein Beispiel?

Die meisten Deutschen glauben, dass man nach 1945 mit Fleiß und harter Arbeit ganz allein einen außergewöhnlichen Wohlstand geschaffen hätte und dass es die soziale Marktwirtschaft nur in Deutschland gäbe. Tatsächlich hat Deutschland ein Wirtschaftssystem wie andere Länder auch. Es ist nicht allein, sondern durch die Zusammenarbeit mit den europäischen Nachbarn reich geworden. Das wird gerne ausgeblendet.


Müssen wir uns von der Erzählung verabschieden, Deutschland sei eine soziale Marktwirtschaft?

Ja, weil sie nicht stimmt. Die Bundesrepublik war fast immer neoliberal. Die „soziale Marktwirtschaft“ war nur ein Etikett, um zu verbrämen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die gleichen Großkonzerne und die gleichen Manager das Sagen hatten wie schon zu NS-Zeiten.


Wie ist Ihr Ausblick für die nächsten 70 Jahre?

Das beherrschende Thema wird der Klimawandel sein. Wenn wir nichts unternehmen, erwärmt sich die Erde um vier Grad mit fatalen Folgen. In den reichen Industrieländern werden wir uns daher vom Wachstum verabschieden müssen. Deutschland tut derzeit so, als könnte es drei Planeten verbrauchen. Es gibt aber nur eine Erde.


Zu Ihrer Tätigkeit als Journalistin und Publizistin. Hat Qualitätsjournalismus auf Dauer eine Chance?

In den Medien gibt es einen starken Rationalisierungsdruck durch das Internet. Es werden schlicht weniger Journalisten gebraucht. Zudem befinden sich die Printmedien in einer ökonomischen Krise, weil sie die Anzeigen an andere Anbieter im Internet verloren haben. Es wird aber weiter Bedarf an journalistischen Kernkompetenzen geben, wenn es darum geht, Fakten zu sortieren, zu analysieren und zu kommentieren.


Welche Rolle spielen Suchmaschinen, die über ihre Algorithmen immer mehr entscheiden, was rezipiert wird?

Die Gefahr ist groß, dass jeder nur noch in seiner eigenen Blase sendet und wahrgenommen wird. Allerdings war die Macht der Journalisten auch früher schon sehr begrenzt. Die Leserforschung hat gezeigt, dass Zeitungsabonnenten meist auch nur die Artikel gelesen haben, die ihrer eigenen Meinung entsprachen.


Ulrike Herrmann ist Wirtschaftsredakteurin bei der taz. Ihr Buch „Deutschland, ein Wirtschaftsmärchen. Warum es kein Wunder ist, dass wir reich geworden sind“, ist 2019 im Westend-Verlag erschienen. Weitere Informationen auch auf der Seite otto-brenner-preis.de


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