metall 9/10 2022 Politik & Gesellschaft 21 D ie Schwalbe ist ein Element im Ringeturnen, das beim Zu- schauen Schmerzen verursacht. Nur wenn es dem Turner gelingt, seinen gestreckten Körper für zwei Sekunden in der Horizontalen zu halten, mit gestreck- ten, im Winkel von ungefähr 45 Grad auf Höhe des Körpers gehaltenen Armen, ge- ben die Punktrichter die volle Wertung. Nicht alle Topturner beherrschen die Schwalbe. Mohammad Krouma, Indus- triemechaniker bei Thyssen-Krupp, mit 17 aus Syrien geflüchtet, Metaller – und Turner, beherrscht sie. Unglaublich. So wie seine Geschichte. 2014 lebt Mohammad mit seinen El- tern, den drei Brüdern und zwei Schwes- tern in Damaskus. Der Syrienkrieg wütet seit drei Jahren. Es ist das Jahr, in dem die Terrorgruppe Islamischer Staat in das Kämpfen und Morden einsteigt. Moham- mad muss sich entscheiden: Er wird bald 18. Das bedeutet Militärdienst. »Ich hätte Menschen um bringen müssen«, erinnert sich der 25-Jährige heute. Gegen das Töten und für das Leben Mohammad und sein Bruder Tareq ent- scheiden sich gegen das Töten und für das Leben. Per Boot fahren sie in die tür- kische Küstenstadt Mersin. Die Brüder kommen bei einem Freund ihres Vaters unter. Sie finden Arbeit in einer Schuh- fabrik. Arbeitsschutz? Pausen? Men- schenwürdige Behandlung? Moham- mad: »Das war die Hölle. Wir wurden angeschrien, sehr schlecht behandelt.« Aber wer eine Schwalbe turnen kann, hat auch einen Plan B. Moham- mad ist Turner, seit er neun Jahre alt ist. Er trat für die syrische Nationalmann- schaft bei Turnieren in Russland und Armenien an. Also nimmt er in Mersin Kontakt zu einem Turnverein auf. Mit Erfolg. Er trainiert fünf-, sechsmal in der Woche. Sein Trainer behandelt ihn wie seinen eigenen Sohn, besorgt Kleidung, Unterkunft. Ist das die Chance? Manch- mal ergeben sich aus besonderen Fähig- keiten auch Möglichkeiten – vielleicht eine zügige Einbürgerung? Doch Mohammad sieht Risiken: »Ich hätte eine Chance gehabt: Der Turn- verein hätte meinen Einbürgerungsan- trag unterstützt und dadurch wären meine Chancen deutlich gestiegen. Aber wenn dieser Antrag abgelehnt worden wäre, hätte ich keine Chance gehabt, dass ein weiterer erfolgreich gewesen wäre«, erinnert sich Mohammad. Und dann? Drohte vielleicht doch sein Kriegseinsatz als Soldat in Syrien? 5 Länder in 22 Tagen Gemeinsam mit Freunden aus Syrien, die auch in die Türkei geflüchtet sind, plant Mohammad einen großen Schritt: »Wir wollten nach Westeuropa, wir ha- ben da für uns bessere Chancen gese- hen, bessere Bildung.« Sein Bruder Tareq bleibt in der Türkei. In 22 Tagen, mit wenig Essen und kaum Schlaf erreichen sie 2015 über Griechenland, Nordmazedonien, Ser- bien, Ungarn und Österreich den Haupt- bahnhof in München. Wie fasst man so eine Reise in Worte? »Es war insgesamt okay, wir sind zu viert in einer Gruppe von rund 100 Menschen dank Google Maps und hilfsbereiten Menschen in all den Durchreiseländern unverletzt ange- kommen.« In München ist Mohammad nur zwei Tage. Er hört, dass es in Nordrhein- Westfalen schneller gehen soll mit al- lem: Aufenthalt, Arbeit, Schule. Moham- mad stand kurz vor dem Abitur in Damaskus, bevor er sich zur Flucht ent- schlossen hat. Mit dem Zug fährt er in eine Flüchtlingsunterkunft in Unna, dann weiter nach Hagen. Hier lebt Mo- vermisst«, sagt er. Dann legt er los: Gesamtschule Hattingen, Ziel: Abitur. In Syrien war er kurz davor, hier soll er die komplette Oberstufe durchlaufen: drei Jahre. Eine Ewigkeit für einen jungen Mann, der loslegen will. Er schließt die 11. Klasse ab und fasst ein Ziel: »Ich wollte Geld verdienen, auch um meine Familie in Syrien zu unterstützen.« Praktikum, Ausbildung, Metaller 2017 absolviert er eine sechsmonatige berufsvorbereitende Bildungsmaß- nahme. Er lernt verschiedene Berufe kennen. Über das »Projekt Chance« schnuppert Mohammad die Werksluft von Thyssen-Krupp. Schon im darauffol- genden Herbst beginnt er seine Ausbil- dung zum Industriemechaniker im Kon- zern. Er lernt im Nu Deutsch, löchert seinen Ausbilder, wenn er etwas nicht versteht. Wer fragt, bleibt nicht dumm. Mohammad legt den ersten Teil sei- ner Abschlussprüfung im Frühling 2020 mit 97 Prozent als Kammerbester ab, im Juni 2021 schließt er seine Ausbildung vorzeitig mit 92 Prozent »sehr gut« ab. In der Jahresbestenliste über alle Standorte von Thyssen-Krupp Steel Europe belegte Mohammad damit den dritten Platz. Sein Platz seitdem: Industriemechani- ker, Thyssen-Krupp, Bochum, Werk 3 – und sechsmal die Woche die Turngeräte. Und natürlich die IG Metall: »Zu Beginn »Ich bin zufrieden, habe einen tollen Beruf, aber ich bin auch bereit für das, was mir das Leben noch bringt.« hammad dreieinhalb Monate. Dort be- ginnt er, seine Zukunft zu gestalten: Auch jetzt hilft ihm das Turnen. Er er- zählt den Mitarbeitern im Flüchtlings- heim, dass er Leistungsturner ist und steigt schon bald in das Training im Turnzentrum Bochum-Witten ein. Die Verantwortlichen des Leistungszen- trums setzen sich dafür ein, dass Mo- hammad in der Nähe bleiben darf. Er zieht um in eine Unterkunft in Hattin- gen. Seine Kumpel, mit denen er auf der Suche nach einem besseren Leben durch fünf Länder gereist ist, werden nach Aa- chen verlegt. Zum ersten Mal fühlt sich Mohammad allein: ohne die Freunde, ohne Familie, »ich habe auch die Mitar- beiter des Flüchtlingsheims in Hagen meiner Ausbildung erzählte mir ein Metaller, was die IG Metall ist, was sie leistet, gerade für Auszubildende. Mir war sofort klar, dass das eine gute Sache ist, und dass ich da mitmache.« Ist Mohammads Geschichte, die 2014 auf einem Boot begann, damit zu Ende erzählt? »Ich bin zufrieden, habe einen tollen Beruf, aber ich bin auch bereit für das, was mir das Leben noch bringt.« Ihn faszinieren Social Media und wie sich darüber mit Menschen kommunizieren lässt. Mohammad der Influencer? – Wer weiß: Sprachbegabter Leistungsturner mit Topausbildung ver- rät Erfolgsrezepte auf Instagram. Viel- leicht turnt Mohammad im Video dann auch die Schwalbe. Unglaublich. h c a b s A k i n m o D i : o t o F