16 metallzeitung | Mai 2021 Am Ende der Kräfte GESUNDHEITSSCHUTZ Stetiger Druck, unsichere Aussichten: In der Pandemie wachsen psychische Belastungen, viele Beschäftigte fühlen sich erschöpft. Beim Anlagenbauer SMS in Hilchenbach versucht der Betriebsrat gegenzusteuern – und ist erfolgreich. | Von Jan Chaberny E s ist ein bisschen wie bei einer Waage, sagt Vanessa Kruse. Eine Waage, bei der auf die eine Waag- schale stetig neue Steine gelegt werden: Jeder Stein für sich genommen wiegt nicht viel. Alle Steine zusammen aber türmen sich zu einem gewaltigen Berg auf – der die Waage plötzlich und unumkehrbar aus dem Gleichgewicht bringt. »Ich spüre, dass sich die Steine türmen«, sagt Vanessa Kruse. »Die Belastungen nehmen zu.« Da ist, als erster Stein, die Arbeitssitua- tion. Die 26-Jährige arbeitet im Servicebe- reich bei der SMS Group am Standort Hil- chenbach, einem Anlagenbauer für die Stahlindustrie. Kruse arbeitet im Vertrieb, sie ist Ansprechpartnerin für die Kunden in Skandinavien. Dazu kümmert sie sich um die Abwicklung laufender Projekte. »Die Arbeit macht mir Spaß. Aber es ist nicht leicht, i n Kurzarbeit zu stecken.« Zwei Tage pro Woche arbeitet Vanessa Kruse derzeit im Büro. Manchmal reicht die Zeit nicht, um alles fertigzubekommen. »Dann wächst der Druck. Ich kenne einige, die Arbeit mit nach Hause nehmen.« Vanessa Kruse nimmt keine Arbeit mit nach Hause. Sie möchte, das ist der zweite Stein, nicht im Homeoffice arbeiten, auch wenn ihr der Arbeitgeber das anbietet. »Ich vermisse im Homeoffice meine Kollegen. Mir fehlt Struktur«, sagt sie. »Das sind Dinge, die mich beschweren. Ich muss dafür sorgen, dass die jetzige Situation mich nicht überlastet.« An diesem Punkt nun kommt Stephan Klenzmann ins Spiel. Er ist 45 Jahre alt. Seit 1991 arbeitet er im Unternehmen. Seit 2009 ist er freigestellter Betriebsrat. Seit mittler- weile zehn Jahren kümmert sich Klenz- mann um Arbeits- und Gesundheitsschutz. Er sagt: »Das, was Vanessa sagt, verstehe ich gut. Der Punkt ist nur: Sie ist nicht allein dafür verantwortlich, darauf zu ach- ten, dass psychische Belastungen nicht überhandnehmen. Es ist die Pflicht des Arbeitgebers, dafür zu sorgen, dass dies nicht geschieht. Und als Betriebsrat ist es unsere Aufgabe, darauf zu dringen, dass Belastungen gesenkt werden. Das tun wir.« Belastungen steigen. Gerade in der Pandemie. Es ist dringend geboten. Denn die psy- chischen Belastungen, denen Beschäftigte während ihrer Arbeit ausgesetzt sind, neh- men zu. Gerade in der Pandemie. In einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stif- tung gaben 40 Prozent der Erwerbstätigen an, ihre Situation als »stark belastend« oder »äußerst belastend« wahrzunehmen. Auch die Krankenkassen registrieren stei- gende Belastungen. So nimmt die Zahl der Burn-out-Fälle zwar nicht zu. Dafür aller- dings die Länge der Fehlzeiten. Burn-out- Patienten der AOK waren 2020 durch- schnittlich 24 Tage krankgeschrieben – ein Plus von neun Prozent gegenüber dem Vorjahr. Stephan Klenzmann braucht keine wis- senschaftlichen Studien. Er sieht, was bei ihm im Betrieb geschieht. »Die Belastun- m l e H d e r k n a T : o t o F gen der Kolleginnen und Kollegen sind während der Pandemie nochmals gestie- gen. Wir müssen dringend wirksame Maß- nahmen verankern, um vor allem Stress- faktoren wirksam zu reduzieren«, sagt der 45-Jährige. »Unser Mittel der Wahl ist hier die Gefährdungsbeurteilung. Unser Ziel ist es, Belastungsquellen für jeden einzelnen Arbeitsplatz aufzuspüren, diese zu doku- mentieren und gemeinsam mit dem Arbeit- geber mit Maßnahmen nach dem TOP-Prin- zip zu reduzieren. Wir schauen also immer zuerst, welche technischen und organisa- torischen Maßnahmen umgesetzt werden können, bevor wir persönliche Schutzmaß- nahmen festlegen.« Bis zu diesem Ziel ist es noch ein weiter Weg. Aufgebrochen aber sind sie bereits: »Wir haben im Frühjahr des Jahres 2019 den Prozess mit einer Informationsveran- staltung gestartet.« Auf einer Betriebsver- sammlung hat der Betriebsrat einen Fra- gebogen vorgestellt, mit dem psychische Belastungen sichtbar gemacht und detail- liert vermessen werden sollten. »Wir haben uns für ein dialogorientiertes Verfahren zur Ermittlung und Beurteilung von Gefähr- dungen entschieden«, sagt Stephan Klenz-