GASTBEITRAG IN DIE ZEIT
Keine Selbstbespiegelung!

IG Metall-Chef Jörg Hofmann fordert: Deutschland braucht eine neue Form von Kurzarbeitergeld - zu hart trifft der technologische Wandel die Beschäftigten der Metallindustrie.


Stellen Sie sich vor, sie befinden sich in einem entscheidenden Moment Ihres Lebens. Würden Sie ihn mit Klatsch und Tratsch verbringen? Eher nicht. Doch machen große Teile der deutschen Politik genau das. Während wir vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten stehen, beschäftigen sich zu viele mit sich selbst: Man spekuliert über Neuwahlen, als wäre Politik ein Spiel.

Dabei gerät aus dem Blick, was in und für Deutschland auf dem Spiel steht. Wir befinden uns mitten in einem fundamentalen Umbruch der Industrie. Die Unruhe auf den Exportmärkten ist groß, die Produktion wird digitalisiert und automatisiert, und unsere Industrie muss klimaneutral werden. Jede dieser Herausforderungen für sich wäre enorm. Zusammen sind sie gigantisch. Und sie zielen direkt ins Herz der Wirtschaft dieses Landes.

Deshalb brauchen wir jetzt eine handelnde Regierung. Alle politischen Akteure müssen Verantwortung für dieses Land ernst nehmen. Deutschland kann sich keine parteipolitische Selbstbeschäftigung und keinen Stillstand leisten.

Die Handelskonflikte zwischen den USA und ihren Handelspartnern drohen weiter zu eskalieren. Ein starkes Europa ist gefragt. Für Deutschland steht besonders viel auf dem Spiel. Zugleich beschleunigt sich der Umbruch in der Autoindustrie. Die Hersteller gehen ins Risiko und setzen auf Elektrifizierung, Zulieferer müssen sich umstellen, Hunderttausende, die dort beschäftigt sind, haben keine sichere Perspektive. Weitere Automatisierungsschübe durch digitale Technologie stehen bevor – in Produktion und Verwaltung. Umso schwerer wiegen die Versäumnisse auf Arbeitgeberseite: Rund die Hälfte der Unternehmen in den Branchen der IG Metall haben keine Strategie, wie sie diese Transformation bewältigen.

Der Bedarf an Investitionen ist riesig – öffentlich wie privat. Der Staat muss jetzt investieren oder private Investitionen anschieben: in die Ladeinfrastruktur für Elektroautos, in den öffentlichen Nahverkehr, in die digitale Infrastruktur, die Schieneninfrastruktur, in neue Konzepte der Güterlogistik. Und auch die Unternehmen müssen die Voraussetzungen für den Erfolg der Zukunft schaffen. Mit Investitionen in neue Geschäftsmodelle, in die Qualifizierung ihrer Beschäftigten und in Forschung und Entwicklung. Dafür brauchen sie Planungssicherheit.

Gleichzeitig müssen wir die Klimadebatte vom Kopf auf die Füße stellen. Wer Ziele setzt, muss auch überprüfbar erklären, wie er sie erfüllen will. Daran mangelt es in der Klimapolitik. Schluss damit. Wir müssen die erneuerbaren Energien schneller ausbauen, den Netzausbau massiv verstärken und einen Sprung bei der Speichertechnologie machen. Ein flächendeckendes Netz von Schnellladestationen für die Elektromobilität ist ebenfalls Pflicht.

Die Menschen brauchen Alternativen für neue Mobilität. Der Nahverkehr muss besser werden, die Bahnen insgesamt auch. Mehr Güterverkehr gehört auf Schiene und Binnenschiff. Das alles wird hunderte Milliarden verlangen. Letztlich wird Deutschland nur dann industrieller Innovationsführer bleiben, wenn es beweist, dass Klimaschutz und Industrie kein Widerspruch sind, sondern ein Erfolgsmodell.

Die Mehrzahl der Technologien steht zum Glück bereit. Trotzdem sind wir auf zentralen Feldern abhängig von anderen. Bei Batteriezellen von asiatischen Anbietern, bei der digitalen Infrastruktur von amerikanischen Internetriesen. Für beides braucht es europäische Alternativen.

Der schnelle Wandel der Industrie verlangt nach Sicherheiten für die dort Beschäftigten. Wer Angst um seine Zukunft hat, lehnt Veränderung eher ab. Wir brauchen aber die engagierten Facharbeiter, Angestellten, Ingenieure, wenn die Transformation gelingen soll. Lesen Menschen ständig von Personalabbauplänen, verstärkt sich die Zukunftsangst. Das Gegenmodell, das wir Arbeitgebern abverlangen müssen, liegt auf der Hand: investieren und qualifizieren. Für die Rekordgewinne der vergangenen Jahre wie für künftige Digitalisierungsdividenden gilt: Sie müssen in gute Arbeit für möglichst viele investiert werden. Wer dem widerspricht, sollte im Grundgesetz nachschlagen: Eigentum verpflichtet.

Dazu braucht es auch neue arbeitsmarktpolitische Instrumente, etwa ein Transformationskurzarbeitergeld. Klingt sperrig, ist aber ganz einfach. Es geht darum, Beschäftigten eine Perspektive durch Qualifizierung zu geben, wenn deren Unternehmen auf dem Weg vom alten zum neuen Geschäftsmodell in Probleme geraten.

Unsere Vorstellungen für einen fairen Wandel liegen auf dem Tisch. Die IG Metall hat dem Kapitalismus immer wieder abgerungen, was auch in dieser historischen Lage unser Ziel ist: dass aus technischem Fortschritt sozialer Fortschritt für alle wird. Dafür gehen wir am 29. Juni auf die Straße und setzen ein unübersehbares Zeichen für Politik und Unternehmen. Kümmert euch um einen fairen Wandel – und handelt jetzt.

Jörg Hofmann ist Erster Vorsitzender der IG Metall und Aufsichtsrat bei VW und Bosch.

Dieser Gastbeitrag erschien am 27. Juni 2019 in Die Zeit und am 26. Juni 2019 in Die Zeit Online.

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