INTERVIEW BEI WELT ONLINE
„E-Mobilität kostet weit mehr als nur 150.000 Jobs“

IG Metall-Chef Jörg Hofmann wünscht sich ein Netz aus Elektroladesäulen und warnt vor einer Pleitewelle in der Autobranche


In den 50er-Jahren hat der Staat ein Netz von Autobahnraststätten aufgebaut. Genau das wünscht sich IG-Metall-Chef Jörg Hofmann jetzt auch für Elektroladesäulen. Zugleich warnt er vor einer Pleitewelle in der Autobranche.

Das Gespräch im Berliner Vorstandsbüro der IG Metall findet unter klimaschonenden Bedingungen statt. Die Kommunikationschefin ist per Videokonferenz aus der Zentrale in Frankfurt zugeschaltet, hat also auf den Flug in die Hauptstadt verzichtet. Und Jörg Hofmann, Chef der Gewerkschaftschef IG Metall, ist morgens aus dem Berliner Norden ins Büro geradelt.

Herr Hofmann, Digitalisierung und E-Mobilität werden die deutsche Automobilindustrie dramatisch verändern. Eine von Ihnen in Auftrag gegebene Studie warnte jüngst, dass 150.000 Arbeitsplätze verloren gehen könnten. Ist das Panikmache, um Druck auf die Politik zu machen?

Jörg Hofmann: Überhaupt nicht. Das ist überaus konservativ gerechnet und liegt am unteren Rand dessen, was wir an Arbeitsplatzverlusten erwarten. Wir leiten diese Zahl aus einer Studie des Fraunhofer-Instituts ab. Dort wurde nur untersucht, wie viele Stellen unmittelbar in der Produktion im Bereich des Antriebsstrangs wegfallen werden.


In der Produktion von Motoren, Kupplungen und Schaltgetrieben sind die Folgen des Wandels besonders deutlich. Ein Vierzylinder-Verbrennungsmotor besteht aus mehr als 1000 Teilen, die montiert werden müssen, ein Elektromotor aus bis zu 250 Teilen.

Genau. Aber auch in anderen Bereichen werden Stellen verschwinden, bei der Motor- und Getriebeentwicklung beispielsweise, in den Kfz-Werkstätten und den ganzen Branchen, die an der Produktion hängen. Gießereien etwa produzieren im Wesentlichen für die Autoindustrie, und deren Gussteile werden vor allem im Antriebsstrang verwendet. Die E-Mobilität wird hierzulande weit mehr als nur 150.000 Arbeitsplätze kosten.


Dafür werden auch neue Arbeitsplätze entstehen.

Natürlich. Wir wollen keine Horrorszenarien entwerfen. Veränderung geschieht immer wieder, und wir wollen als gewerkschaft den Fortschritt nicht blockieren. Aber es ist wichtig für die Unternehmen und die Politik, eine Vorstellung davon zu haben, um welch gewaltige Größenordnungen es geht. Und es gilt, Brücken zu bauen: Auch 2030 brauchen wir den Diesel - aber weniger Menschen werden damit beschäftigt sein. Wie also können wir Übergänge gestalten, damit kein Beschäftigter unter die Räder kommt? Da sind die Arbeitgeber gefordert, aber wir brauchen auch neue arbeitsmarktpolitische Instrumente, wie das Transformationskurzarbeitergeld. Statt Leute zu entlassen, müssen wir sie für Aufgaben von morgen qualifizieren.


Experten erwarten, dass die deutsche Autoindustrie um bis zu 30 Prozent schrumpft. Was bedeutet das für kleinere Zulieferer?

Ich sehe diese Zahl nicht so pessimistisch. Aber die Transformation der Automobilindustrie bedroht viele Zulieferer in ihrer Existenz. Wenn bei einem Zulieferer in der zweiten oder dritten Reihe, der heute ausschließlich Verbrennungskomponenten fertigt, künftig 20 Prozent des Auftragsvolumens wegfallen, wird er in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten.


Sind diese Firmen auf die Herausforderung vorbereitet?

Ganz klar: Nein. Großkonzerne wie ZF Friedrichshafen oder Bosch treiben die Transformation voran, und es gibt einige kleinere Zulieferer, die sich mit dem Thema auseinandersetzen. Aber das Gros der Zulieferer verschließt die Augen vor dem Wandel. Viele Mittelständler leben in der Hoffnung, dass irgendjemand im Jahr 2030 schon noch irgendein Ventil brauchen wird. Aber die Zukunft des Unternehmens auf solch eine vage Hoffnung zu bauen, das ist ein Vabanquespiel.


Wie verbreitet ist diese Haltung?

Wir haben in den vergangenen Monaten viele Betriebe besucht, um herauszufinden, wo der Strukturwandel besonders einschneidende Folgen haben wird. Die Situation bei vielen Zulieferern ist dabei durchaus dramatisch. In jedem zweiten Betrieb gibt es bis heute keine Strategie für den Wandel hin zu E-Mobilität. Die einzige erkennbare Strategie in diesen Firmen ist, auf Sicht im Nebel zu fahren. So fährt man den Betrieb aber langfristig an die Wand. Deshalb fordern wir unsere Betriebsräte auf, die Arbeitgeber permanent zu löchern. Was sind die Perspektiven für den Standort? Können wir neue Geschäftsmodelle entwickeln, um den Bestand des Unternehmens zu sichern? Wenn das Management den Kopf in den Sand steckt, müssen die Arbeitnehmer Druck machen.


Noch kaufen die Deutschen kaum Elektroautos. Selbst die teuersten Modelle taugen bisher allenfalls als Zweitwagen, weil lange Autobahnfahrten praktisch unmöglich sind.

Genau, die Verfügbarkeit von Ladesäulen wird über den Erfolg der E-Mobilität entscheiden, und deshalb muss die Politik endlich handeln. Die Autohersteller bauen ihre Werke bereits so um, dass 2030 die Hälfte der produzierten Wagen E-Autos sind, weil es der Gesetzgeber fordert. Auch die Zulieferer richten sich darauf ein, aber irgendwer muss die Autos auch kaufen. Das heißt, es muss attraktiv und praktikabel sein, E-Autos zu fahren. Und da ist der Staat gefragt.


Was erwarten Sie konkret von der Bundesregierung?

Deutschland braucht eine flächendeckende Ladeinfrastruktur mit ausreichend Schnellladestationen. Die Bundesregierung muss für die Schnellladestationen solch ein Investitionsprogramm auflegen wie in den 50er-Jahren für die Autobahnraststätten. Der Staat hat damals in den ersten Jahren der Bundesrepublik die Aufgabe übernommen, an den Autobahnen alle 100 Kilometer eine Tankstelle zu bauen. Die wurden verpachtet, aber der Bau war staatlich organisiert, um eine flächendeckende Versorgung zu garantieren. Und solch eine flächendeckende Versorgung, auch jenseits der Autobahnen, ist auch die Voraussetzung dafür, dass die Deutschen Elektroautos kaufen, weil sie die Sicherheit haben, schnell Strom tanken zu können, egal wo sie sind.


Norwegen hat vorgemacht, wie es gehen kann. Was würde das in Deutschland kosten?

Die Kosten für den Aufbau einer flächendeckenden Infrastruktur mit Schnellladestationen an den Autobahnen sind überschaubar; wir rechnen mit über zehn Milliarden Euro für Stationen und Infrastruktur. Viel entscheidender
ist aber, dass die Energienetze derzeit nicht leistungsfähig genug sind, um die Stationen zu versorgen. Um an einer Autobahnraststätte mehrere Ladestationen zu betreiben, sind gewaltige Erdkabel nötig, die gekühlt werden müssen,
oder ein kleines Kraftwerk neben der Raststätte. Das gilt auch für die Situation in den Städten. Gegenwärtig sind die regionalen Verteilernetze so ausgelegt, dass maximal zehn Prozent aller Kfz hierzulande E-Autos sein können. Wenn es mehr werden, überlastet das die Netze.


Die Politik schreibt also viele E-Autos vor, schafft aber nicht die nötigen Voraussetzungen dafür?

Ganz genau. Wir als Gewerkschaft befürworten die Klimaziele, aber die Politik muss endlich anfangen, die Ziele auch umzusetzen. Nur Vorgaben zu machen, ohne die Umsetzung zu unterstützen, ohne Maßnahmen dahinter und ohne die nötigen Investitionen - das wird für ein Fiasko sorgen: bei den Kunden, den Beschäftigten und auch beim Klimaschutz. Bisher macht sich der Staat an dieser Stelle extrem schlank und drückt sich vor seiner Verantwortung.


Nachdem die Grünen bei der Europawahl ein Rekordergebnis erzielt haben, positionieren sich auch die anderen
Parteien neu zum Klimawandel. Wie bewerten Sie das?

Das starke Abschneiden der Grünen muss ein starker Ansporn für alle Parteien sein, mit voller Kraft in eine staatliche Klimastrategie einzusteigen. Ziele und Verbote gibt es in der Klimapolitik inzwischen wirklich genug. Die Wähler haben nicht für Grün gestimmt, weil sie noch mehr schöne Klimaziele wollen, sondern weil sie zu Recht erwarten, dass die Politik nicht nur wolkige Reden schwingt, sondern auch handelt. Es genügt nicht, den Ausstieg aus der Braunkohle zu beschließen und nicht zu klären, woher morgen der regenerativ erzeugte Strom kommen soll. Das Gleiche gilt für den Ausstieg aus Verbrennungsmotoren.


Quelle: Welt Online. Das Interview erschien am 04. Juni 2019. Autor: Dr. Tobias Kaiser

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