Alle Informationen zum Betriebsrätepreis finden sich unter: betriebsraetepreis.de Siemens GBR und Standort Tübingen: digitale Wende angetrieben An diese Antwort kann sich Ismayil Arslan erinnern, als hätte er sie erst gestern Mittag bekommen. »Was sollen wir denn digitalisieren? Wir bauen ja nur Getriebemotoren.« Das waren die Sätze, die der Be- triebsratsvorsitzende von Siemens in Tübingen im Frühjahr 2017 von seinem Arbeitgeber zu hören bekam – und die ihn einigermaßen fassungslos machten. »Wir befanden uns seit Jahren in einer wirtschaftlich angespannten Situation, und diese Situation war vor allem auf mangelnde Optimierung, Automatisierung und Digitalisierung zurückzuführen«, sagt Ismayil Ars- lan. »Die Warnungen von uns als Be- triebsrat, dass man eine zukunftsori- entierte Umstrukturierung anstreben muss, damit wir nicht in absehbarer Zeit unsere Wettbewerbsfähigkeit verlieren und die Existenz des Stand- orts gefährden, die wurden lange Zeit ignoriert.« Als der Arbeitgeber dann An- fang 2017 ankündigte, die gesamte Montage und deren anliegende Be- reiche nach Tschechien zu verlegen, ist Arslan und seinem Team sogleich klar, dass sie die Umwandlung des Getriebewerks in ein digitales Vor- zeigewerk selbst anschieben müssen. Das gelingt ihnen, unterstützt durch das Projekt »Arbeit und Innovation« der IG Metall, auf beeindruckende Weise. So konnten in Tübingen eine Reihe von digitalen Anwendungen eingesetzt und die Arbeitsplätze so umgebaut werden, dass ein effizien- teres, häufig auch interessantes Ar- beiten möglich wird. In der Montage etwa wurden die Arbeitsplätze so modernisiert, dass die Aufträge sehr viel schneller bearbeitet werden kön- nen. Dazu werden die Transport- wege von fahrerlosen Transportsys - temen (FTS) übernommen. In der Fertigung zeigt jetzt ein Bildschirm in der Halle in Echtzeit, wie die Einlastung und Verfügbar- keit der einzelnen Maschinen ist. Im Service-Bereich wurde Google Glass eingesetzt. Dadurch ist es möglich, Kolleginnen und Kollegen auf der ganzen Welt Daten und Anweisun- gen zu geben, wie Sie einen Getrie- bemotor reparieren, eine Fehlersu- che durchführen, Teile austauschen können. Und in den Büros wurden durch den Einsatz von Algorithmen monotone, immer wiederkehrende Prozesse abgeschafft – die Kollegin- nen und Kollegen haben nun freie Kapazitäten für höherwertige Arbeit. »Uns war es wichtig, die Kolle- ginnen und Kollegen frühzeitig bei allen Schritten miteinzubeziehen«, sagt Ismayil Arslan. »Digitalisierung kann nur dann gelingen, wenn die Beschäftigten mitgenommen wer- den und ihre Erfahrungen, ihr gan- zes Know-how einbringen können.« Qualifizierung gefördert Digitali- sierung ist dabei aber mehr als das Einführen von Technik. Es verän- dert Arbeitsplätze und Tätigkeits- profile grundlegend. »Hier kommt unser Gesamtbetriebsrat ins Spiel«, sagt Ismayil Arslan. Zusammen mit der IG Metall hat der Gesamtbe- triebsrat mit der Siemens AG den sogenannten Zukunftsfonds ver- handelt. Ein Werkzeug, das es Be- triebsräten ermöglicht, mit ihren Betriebsleitungen ganzheitliche, nachhaltige Qualifizierungskon- zepte zu entwickeln, um die Beleg- schaft durch den Strukturwandel mitzunehmen – und dafür auch Fi- nanzmittel zu beantragen. Die Be- antragung und Vergabe dieser Mit- tel erfolgt dabei paritätisch. »Das ist ein wichtiges, zusätzli- ches Instrument, mit dem die Sie- mens-Beschäftigten für den digitalen Wandel qualifiziert werden können«, sagt Tobias Bäumler vom Siemens- Gesamtbetriebsrat. Das Werk Tübin- gen nutzt den Zukunftsfonds, um so seine Transformation zum Digitali- sierungs-Vorzeigewerk zu komplet- tieren – einem Vorzeigewerk, in dem der Mensch im Mittelpunkt steht. 17 metallzeitung Juli/August 2019 ZF TRW: Ausgliederung verhindert Als Beate Elingshausen das erste Mal vom Plan der Geschäftsfüh- rung hört, ist sie richtig sauer. »Der Arbeitgeber wollte unsere Kom- plettierung und Verpackung an einen externen Provider vergeben, 186 Leiharbeiter wären von dem Outsourcing betroffen gewesen, sie hätten dann zu deutlich schlechte- ren Bedingungen gearbeitet und auch viel weniger Geld bekom- men«, sagt die Betriebsratsvorsit- zende von ZF TRW in Neuwied. »Das konnten wir nicht auf uns sit- zen lassen.« Das haben sie auch nicht auf sich sitzengelassen: Ende Novem- ber 2017 treten Elingshausen und ihr Team in Verhandlungen mit dem Arbeitgeber ein, schnell mer- ken sie, dass die Geschäftsführung nicht sauber argumentiert. »Der Arbeitgeber hat uns gesagt, dass er mit der Aktion Kosten sparen will«, sagt Beate Elingshausen. Zu- sammen mit einem externen Bera- ter gelang es dem Betriebsrat aller- dings vorzurechnen, dass das nicht stimmt. Dass es mit Outsourcing sogar noch teurer wird. »Der Dienstleister will seine Marge haben, der ist teuer. Und es war überhaupt nicht genau geklärt, wel- che Leistungen erbracht werden sollten und welche noch gesondert abgerechnet werden konnten.« Gelebte Solidarität Die besseren Argumente haben also Elingshau- sen und ihr Team, aber wie das so ist: Argumente allein genügen häu- fig nicht. »Wir haben viel Unter- stützung von der Öffentlichkeit bekommen und großen Rückhalt von den Beschäftigten«, sagt Beate Elingshausen. »Ohne diese Einig- keit, ohne diese Solidarität wäre es nicht möglich gewesen, die Kolle- ginnen und Kollegen bei uns zu halten.« Genau das ist gelungen: »Alle 186 Betroffene haben einen ZF-TRW-Arbeitsvertrag bekom- men – und das zu sehr guten Be- dingungen.« Fendt: freie Tage durchgesetzt Die Belastungen der Kolleginnen und Kollegen in der Getriebe- und Traktorenmontage waren viel zu hoch, darüber musste man nicht lang diskutieren. »Die Beschäftigten haben eine hohe arbeitstägliche Be- lastung in taktgebundener Band- montage«, sagt Michael Schnitzer, Betriebsratsvorsitzender des Trakto- renbauers Fendt in Marktoberdorf. Die Frage war nun, wie die Belastun- gen für die Beschäftigten reduziert werden konnten. »Wir wollten den Kolleginnen und Kollegen mehr freie Tage ermöglichen«, sagt Schnit- zer. »Das ist uns gelungen.« Der Betriebsrat hat dazu den Metall-Tarifabschluss vom Februar 2018 als Grundlage genommen: Be- schäftigte, die Kinder betreuen, An- gehörige pflegen oder langjährig in Schicht arbeiten, können einen Teil des neuen tariflichen Zusatzgelds (siehe Seite 11) auch in Zeit wählen und so zusätzliche acht Tage im Jahr frei nehmen. »Das ist eine super Sache«, sagt Michael Schnitzer. »An diesem Tarifvertrag haben wir uns orientiert.« Freie Zeit Nach langen, intensiven Verhandlungen mit dem Arbeitge- ber gelang Schnitzer und seinem Team der Durchbruch: »Wir konn- ten den Kreis der berechtigten Be- schäftigten um rund 850 Kollegin- nen und Kollegen erweitern«, er. »Diese Beschäftigten bekommen jetzt die Möglichkeit, das tarifliche Zusatzgeld in sechs freie Tage umzu- wandeln.« Ein Angebot, das sehr gut ankommt, das viele nutzen: Zusätz- lich haben 526 Kolleginnen und Kol- legen die Wandlung des tariflichen Zusatzgelds gewählt. »Und was dabei ganz wichtig ist: Wir kompensieren ausschließlich über zusätzliches Per- sonal«, sagt Michael Schnitzer. »Es werden jetzt 20 Kolleginnen und Kollegen befristet für 2019 einge- stellt, um die gewandelten freien Tage aufzufangen.«