10 Bildung metall 11/12 2021 Selbstbestimmt, engagiert und frei BILDUNG Dilek Çolak wächst in der Türkei auf, arbeitet dort als Grundschullehrerin. Sie ist engagierte Gewerkschafterin. Eines Tages wird Dilek verurteilt und verhaftet. Vor Haftantritt gelingt ihr die Flucht nach Deutschland. Hier baut sich die 37-Jährige ein neues Leben auf. Unterstützt wird sie durch ein Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Von Jan Chaberny D ilek Çolak war sehr aufgeregt während der Auswahlgespräche. Sie musste alles noch mal erzäh- len. Alles kam wieder hoch. Wie ihr Ver- teidiger sie nach dem Urteil anrief und ihr sagte, sie müsse gehen, sie müsse ihr Land verlassen, nicht irgendwann, son- dern am besten jetzt gleich und für im- mer: Dilek Çolak war klar, dass er recht hatte. Sie wusste, dass sie schnell ihr Land, die Türkei, verlassen musste. Das Land, in dem sie aufgewachsen war und in dem sie als Grundschullehrerin unter- richtet hatte. Das Land, das sie liebt, aber dessen Justiz sie fürchtet. Sie wusste auch, dass sie ihre Familie zu- rücklassen würde: ihren Bruder, ihre Schwester, ihre Eltern. »Das war schwer, schmerzhaft«, sagt Dilek Çolak heute, an einem kalten Oktobertag, acht Jahre da- nach. »Es blieb aber keine andere Wahl. Ich musste gehen, um nicht im Gefäng- nis zu landen. Um mein Leben selbstbe- stimmt, engagiert und frei leben zu kön- nen.« Dilek Çolak, 37 Jahre alt, Grund- schullehrerin, seit einem Jahr Studentin der Technischen Informatik an der TH Köln, engagierte Gewerkschafterin, hat sich ihr selbstbestimmtes, engagiertes, freies Leben zurückerobert. Und das Auswahlgespräch für das Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung, das sie am Ende bekommen hat, lief dann doch sehr gut. »Ich bekomme als Stipendiatin dung und Wissenschaft zuständig ist. »Ich habe mit Frauengruppen für die Rechte der Kurden und für Frauenrechte gekämpft«, erzählt Dilek Çolak. »Die Ar- beit war mir sehr wichtig, weil viele Frauen ihre Rechte auf Bildung und Ar- beit noch immer nicht wahrnehmen können. Auch mein eigener Weg zum Studium war schwierig. Schon allein deshalb, weil meine Muttersprache Kur- disch ist.« Letztlich war es dieser Einsatz für die kurdische Kultur und Sprache, letztlich war es ihr großer Mut, ihr Enga- gement und ihre Kreativität, die Dilek Çolak zur Ausreise zwangen. Damals in der Türkei arbeitete Dilek Çolak an einem gewerkschaftlichen Pro- jekt mit: »Frauen machen Kino in ihrer Muttersprache« war der Titel. Zusam- men mit ihren Schülerinnen und Schü- lern produzierte sie einen Kurzfilm in kurdischer Sprache. Der handelte von den Erfahrungen der jungen Menschen beim Sprechen ihrer Muttersprache. »Ich habe als Lehrerin erlebt, dass die kurdi- schen Kinder in der Schule ihre Mutter- sprache nicht sprechen durften«, sagt Dilek Çolak. »Ich habe gesehen, wie sie das belastet, wie sehr sie darunter lit- ten.« Der Film, sagt sie, war ihr eine Her- zensangelegenheit. Aber es war zugleich gefährlich, an ihm zu arbeiten. Zwei Jahre lebt sie in einem Camp Wie sehr, das wird deutlich, als Dilek plötzlich verhaftet wird. 2008 muss sie vier Monate in Untersuchungs haft ver- bringen. Der darauffolgende Prozess dauert mehrere Jahre – am Ende steht finanzielle Unterstützung, das hilft. Und ich habe ein Netzwerk von Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich mich aus- tauschen kann. Das gibt mir Sicher- heit.« Sie engagiert sich in der Gewerkschaft Sicherheit: Das ist das, was Dilek Çolak in der Türkei nicht mehr hatte, nicht mehr hat, nie mehr haben wird. Wenn man mit ihr darüber spricht, wie es zu all dem kommen konnte, wie es ge- schah, dass gegen sie Anklage erhoben, dass sie schließlich zu einer Gefängnis- strafe verurteilt wurde, dann spürt man, wie unverständlich alles für sie bis heute ist. Dass sie es nicht richtig erklären, selbst nicht nachvollziehen kann. Dilek Çolak ist in Malatya geboren, eine Stadt mit rund 800 000 Menschen im Südosten der Türkei. Sie studiert Lehramt an der Malatya-İnönü-Universi- tät und arbeitet später in Diyarbakir als Lehrerin an einer Schule. Und sie enga- giert sich in der Gewerkschaft. Sie wird Mitglied der Eğitim Sen, die im türki- schen Gewerkschaftsbund KESK für Bil- »Es blieb keine andere Wahl. Ich musste gehen, um nicht im Gefängnis zu landen. Um mein Leben selbstbestimmt, engagiert und frei leben zu können.« Dilek Çolak