2. Oktober 2019
Interview mit IG Metall-Chef Jörg Hofmann
Organisationsstark, konfliktfähig und kompetent
Die große Aufgabe der IG Metall für die kommenden Jahre sieht der Erste Vorsitzende Jörg Hofmann darin, „Treiber für eine soziale, ökologische und demokratische Transformation zu sein“. Besondere Bedeutung komme der Tarifbindung zu, der „Gerechtigkeitsfrage Nummer Eins“.

Vor uns steht der Gewerkschaftstag der IG Metall. Was sind die zentralen Themenfelder für die nächsten vier Jahre aus deiner Sicht?

Jörg Hofmann: Die große Aufgabe der IG Metall für die kommenden Jahre ist es, Treiber für eine ökologische, soziale und demokratische Transformation zu sein. Die ökologische Umstellung der Wirtschaft ist unumgänglich. Produkte und Prozesse werden immer stärker digitalisiert. Der Wandel passiert schnell und viele Umbruchprozesse finden gleichzeitig statt. Wir müssen darauf dringen, dass der Wandel fair von statten geht und die Beschäftigten nicht unter die Räder kommen. Den Klimaschutz ist immer auch eine Verteilungsfrage. Denn nur wenn es gelingt, den technologischen Wandel sozial und mit den Beschäftigten gemeinsam zu gestalten, wird er Akzeptanz finden und erfolgreich sein. Um die Transformation erfolgreich zu meistern, müssen wir wirksame Organisationsformen gewerkschaftspolitischen Handelns in der Breite der Betriebe verankern. Wir wollen an unserem zentralen Handlungsort, dem Betrieb, organisationsstark, konfliktfähig und kompetent sein.


Nur wenn es gelingt, den technologischen Wandel sozial und mit den Beschäftigten gemeinsam zu gestalten, wird er Akzeptanz finden und erfolgreich sein“, sagt Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall.


Was sind die zentralen Ziele der IG Metall in den kommenden Tarifrunden? Mehr Geld, mehr Zeit, mehr Weiterbildung?

Alle drei sind wichtig! Weiterbildung ist ein zentraler Schlüssel, um den Beschäftigten Brücken in die Arbeitswelt von morgen zu bauen. Die Arbeitszeit- und Tarifpolitik werden wir auch im Sinne der Beschäftigungssicherung – für einen „Rationalisierungsschutz 4.0“ – weiterentwickeln. Und natürlich brauchen wir auch wieder ordentliche Entgeltzuwächse. Wie die Forderung etwa für die Metall- und Elektroindustrie genau aussehen wird, werden wir aber in Betrachtung der wirtschaftlichen Lage Ende des Jahres bewerten.


Häufig haben Beschäftigte nun die Wahl: Mehr Zeit oder mehr Geld? Haben sich Wahloptionen in Tarifverträgen bewährt?

Auf jeden Fall! Das zeigt allein schon die hohe Inanspruchnahme unserer Wahloption auf zusätzliche freie Tage, die wir mit der letzten Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie verankert haben. 260.000 Kolleginnen und Kollegen wollten lieber acht Tage mehr frei als zusätzliches Geld. Belegschaften werden immer vielfältiger. „One size fits all“ passt da immer weniger. Wir brauchen Lösungen, die zu unterschiedlichen Lebenssituationen und Bedürfnissen passen, aber im kollektiven Rahmen abgesichert sind.

„Gewerkschaften sind Treiberinnen, zugleich aber auch Wächterinnen, dass der Klimaschutz nicht auf Kosten von Beschäftigung und Beschäftigten geht.“


Klima- und Umweltschutz sind die Themen der Stunde – welche Rolle können Gewerkschaften da spielen? Beziehungsweise spielen sie schon?

Gewerkschaften spielen hier mehrere wichtige Rollen: Sie fordern Unternehmen und Politik im Interesse der Beschäftigten an zukunftsfähiger guter Arbeit, die Weichen für den ökologischen Wandel zu stellen. Sie sind damit Treiberinnen, zugleich aber auch Wächterinnen, dass der Klimaschutz nicht auf Kosten von Beschäftigung und Beschäftigten geht. Und sie sind selbst Gestalterinnen, indem sie im Betrieb, tarifpolitisch und für den Gesetzgeber Vorschläge entwickeln, mit denen die ökologische Transformation fair gestaltet werden kann – durch betriebliche Zukunftsvereinbarungen, aber auch etwa mithilfe eines Transformationskurzarbeitergelds, das Qualifizierung für neue, ökologische Technologien und Produkte im Betrieb ermöglicht.


Bei Eurer FairWandel-Demo im Juni in Berlin haben sich über 50.000 für eine soziale und ökologische Transformation der Industrie stark gemacht. Was heißt das für die IG Metall konkret?

FairWandel heißt für uns, dass technischer Fortschritt sich auch in sozialen Fortschritt übersetzen muss, Digitalisierungsgewinne in den Ausbau von Qualifikationen und guter Arbeit investiert werden, Unternehmen frühzeitig strategische Entscheidungen treffen, mit welchen Produkten sie in Zukunft erfolgreich sein können und ihre Belegschaften für die neue Ausrichtung qualifizieren. Und dass der Staat den Rahmen setzt, die nötigen Investitionen tätigt und für soziale Sicherheit im Wandel sorgt, indem er Qualifizierung im Betrieb fördert, aber auch verlässlichen Schutz bei Arbeitslosigkeit bietet.

„Wir müssen selbst Betrieb für Betrieb darum kämpfen, die Tarifbindung zu stärken“


Welche Herausforderung müssen die Gewerkschaften heute am dringendsten anpacken?

Tarifbindung ist die Gerechtigkeitsfrage Nummer Eins. Denn in tarifgebundenen Unternehmen sind nicht nur die Löhne höher und die Arbeitsbedingungen besser. Tarifgebundene und mitbestimmte Betriebe sind auch besser für die Bewältigung der Transformation aufgestellt. Wir müssen selbst Betrieb für Betrieb darum kämpfen, die Tarifbindung zu stärken. Der Gesetzgeber ist aber ebenfalls gefordert, über das Vergaberecht, die Erleichterung von Allgemeinverbindlicherklärungen und über Regelungen zur Fortgeltung von Tarifverträgen bei Verkauf und Ausgründungen etwas dafür zu tun.


Wie können Gewerkschaften die Digitalisierung formen?

Indem sie helfen, ihre Chancen zu nutzen und ihre Risiken zu minimieren. Cobots und digitale Assistenzsysteme bieten etwa Chancen, Arbeit weniger belastend zu gestalten. Künstliche Intelligenz kann Routineaufgaben übernehmen und Raum für interessantere Aufgaben schaffen. Mobile Arbeit kann die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unterstützen. Die permanente Erreichbarkeit kann aber auch zur Entgrenzung von Arbeit führen. Deshalb brauchen wir wache Betriebsräte und klare, begrenzende Regularien auf gesetzlicher, tariflicher und betrieblicher Ebene. Die Maschine muss dem Menschen dienen – nicht umgekehrt!

„Die Elektromobilität spielt eine Schlüsselrolle, aber auch alternative Antriebstechnologien müssen weiter erforscht und marktfähig entwickelt werden.“


Wie begleitet die IG Metall neue Formen der Mobilität – wie die Elektromobilität?

Wenn wir die Klimaziele erreichen wollen, muss bis 2030 jeder zweite zugelassene Neuwagen einen nicht-fossil betriebenen Antrieb haben. Die Elektromobilität spielt dabei eine Schlüsselrolle, aber auch alternative Antriebstechnologien müssen weiter erforscht und marktfähig entwickelt werden. Und wir brauchen neue Mobilitätskonzepte, in denen verschiedene Verkehrsmittel miteinander vernetzt werden und der öffentliche Verkehr gestärkt wird. Wir haben dafür viel praktisches Knowhow und Expertise. Denn wir sind ja nicht nur die Auto-Gewerkschaft, sondern auch die der Züge, Busse, Flugzeuge, Schiffe und Fahrräder


Wie wollt ihr den daraus folgenden Strukturwandel für die ArbeitnehmerInnen mitgestalten?

Wir wollen, dass wir in Deutschland die Verkehrsmittel und Energieanlagen der Zukunft bauen - auf höchstem ökologischen und technologischem Niveau, mit qualifizierten Beschäftigten und zu guten Arbeitsbedingungen. In vielen Betrieben und auf den verschiedensten politischen Ebenen arbeiten wir bereits ganz konkret an der Gestaltung des Übergangs zu diesem positiven Szenario – indem wir Unternehmensentscheidungen über künftige Produkte und Investitionen beeinflussen, betriebliche Zukunftsvereinbarungen schließen, Qualifizierungsprogramme initiieren und indem wir die Politik fordern, regulativ, industriepolitisch und arbeitsmarktpolitisch die Rahmenbedingungen für eine gelingende Transformation zu schaffen.

„Gewerkschaften bilden ein Gegengewicht zum blinden Wirken der Märkte und den Interessen des Kapitals.“


Welche Rolle spielen Gewerkschaften heute für die Gesellschaft?

Ich glaube, uns ist es gelungen, das alte gesellschaftliche und mediale Bild von Gewerkschaften als Dinosaurier, ewig Gestrige und Blockiererin zu überwinden und uns als kompetente Gestalterinnen von Arbeitsbedingungen, erfolgreiche und konfliktfähige Interessenvertretungen und innovative Organisationen zu beweisen. Schlagzeilen wie „Die Avantgarde im Blaumann“ oder „Die IG Metall trifft den Nerv der Zeit“ aus unserer Tarifrunde zur Arbeitszeit zeigen das. Gewerkschaften sind eine autonome Gestaltungskraft im Spannungsfeld von Staat und Markt. Sie bilden ein Gegengewicht zum blinden Wirken der Märkte und den Interessen des Kapitals. Und sie sind eine wesentliche Initiatorin und Gestalterin eines Sozialstaats 4.0 – eines Sozialstaats, der den Bedürfnissen der Beschäftigten nach Sicherheit, Gerechtigkeit und Selbstbestimmung auch in einer sich stark wandelnden Arbeitswelt Rechnung trägt.


Wo siehst Du den DGB in 10 Jahren? Und die IG Metall?

Als schlagkräftige Vertreterinnen all derer, die auf den Verkauf ihrer Arbeitskraft angewiesen sind – egal ob im Betrieb oder in der Cloud unterwegs. Als kompetente Gestalterinnen der Arbeitsbedingungen in den Betrieben und durchsetzungsfähige Mitbestimmerinnen in den Unternehmen. Als innovative gesellschaftspolitische Akteurinnen, die mit Sachverstand und politischem Gewicht neue Ideen in die öffentliche Diskussion bringen. In einer Gesellschaft, die von sich sagen kann: Wir haben den Wandel fair gemeistert! Auch dank starker Gewerkschaften.

„Nur gemeinsam besitzen abhängig Beschäftigte die Macht, ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern wirksam zu vertreten.“


Warum würdest Du jungen Menschen raten, in die Gewerkschaft einzutreten?

Nur gemeinsam besitzen abhängig Beschäftigte die Macht, ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern wirksam zu vertreten. Das ist heute in der Industrie 4.0 nicht anders als vor über 125 Jahren, als die IG Metall gegründet wurde. Solidarität ist hochaktuell und auch aus purem Eigeninteresse geboten. Denn überall dort, wo sich viele Beschäftigte in Gewerkschaften organisieren und gemeinsam für Verbesserungen eintreten, sind die Entgelte höher und die Arbeitsbedingungen besser als in Betrieben und Branchen, wo Gewerkschaften schwach sind und Unternehmen ohne Tarifbindung und Mitbestimmung agieren.


Was muss die Politik unbedingt anpacken?

Sie muss die Rahmenbedingungen für eine gelingende Transformation schaffen. Das fängt bei Verlässlichkeit und Planbarkeit an, geht über massive Investitionen in Netzinfrastruktur und Speichertechnologien, in Ladeinfrastruktur und öffentlichen Personennahverkehr und hört bei verstärkten Anstrengungen für die Qualifizierung und soziale Absicherung von Beschäftigten noch nicht auf. Damit die Mobilitäts- und Energiewende Akzeptanz gewinnt, brauchen die Menschen bezahlbare, attraktive und klimaschonende Alternativen für Verkehr und Wärme. Dazu sind neben privaten auch immense öffentliche Investitionen notwendig, die durch eine gerechte Steuerpolitik und die Überwindung der schwarzen Null ermöglicht werden müssen.


Das Interview ist am 2. Oktober 2019 im Einblick erschienen. Es führte Lena Clausen.


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