24. Mai 2013
Anti-Stress-Initiative: Betriebsräte stoßen oft auf Widerstand
Starke Nerven gegen Stress
Der Mensch ist nicht für Dauerbelastung geschaffen. Doch am Arbeitsplatz gehen viele täglich an ihre Grenzen. Das macht krank. Dennoch stoßen Betriebsräte oft auf Widerstand, wenn sie etwas ändern wollen. Statt über Stress zu reden, sitzen sie in Einigungsstellen.

Zehn Anrufe in gut einer Stunde. Ein Kollege, der etwas wissen will. Das Lager meldet, dass das Ersatzteil angekommen ist, ein Kunde hat ein Problem. So geht es seit über einer Stunde. Ausnahmezustand oder Alltag? Daniel Klein lacht: „Ganz normaler Alltag.“ Der 32-Jährige arbeitet bei der Firma Otis in Mannheim und betreut Kunden rund um Worms. Instandhaltung, Service, Notfälle. Daniel Klein ist der Aufzugsmonteur für alle Fälle. „Ich weiß am Morgen nie, was der Tag alles bringt. Das ist das Spannende an meinem Beruf.“ Er liebt das Spontane, aber er will den Überblick behalten. Das klappte nicht immer.

Zu wenig Leute

„Eine Zeit lang bekamen wir immer mehr Kunden, aber keine neuen Leute.“ Mit den neuen Kunden kam neue Technik. Mehr Arbeit auf den gleichen Schultern, mehr Probleme, die sich nicht auf Anhieb lösen ließen. „Es gab Tage, da sind wir von einem Kunden zum nächsten gerannt. Am Abend hatte ich das Gefühl, nichts richtig geschafft zu haben, und ich war völlig platt.“ Seine Überstunden häuften sich.

Bei Otis war er damit nicht allein. Betriebsrat Stefan Hoock hat die Überstunden gezählt: Fast 2600 schoben die 62 Beschäftigten in Mannheim in manchen Jahren vor sich her. Das war selbst für Monteure viel. Der Betriebsrat befragte die Beschäftigten. Das Ergebnis überraschte Stefan Hoock nicht. Nun hatte er schriftlich, was er schon lange wusste: „Wir hatten zu wenig Leute für zu viel Arbeit.“ Dafür hatte Hoock sieben Jahre, acht Sitzungen in Einigungsstellen und elf Verfahren vor Arbeitsgerichten gebraucht. Erst dann stimmte der Arbeitgeber einer Gefährdungsbeurteilung zu psychischen Belastungen zu. „Manchmal dachte ich, wenn ich hier fertig bin, brauch’ ich selbst den Psychologen.“

Stress macht krank

Wenn Betriebsräte Stress am Arbeitsplatz abstellen wollen, brauchen sie starke Nerven. Ein neuer Schreibtischstuhl oder eine Hebehilfe sind meist kein Problem. So etwas bekommen Beschäftigte recht schnell. Gegen Stress kämpfen Arbeitnehmervertreter dagegen oft Jahre. Dabei schadet Stress der Gesundheit genauso wie eine schlechte Sitzhaltung oder schweres Heben. Wissenschaftler wie Nico Dragano kennen die Zusammenhänge gut. „Stress erhöht den Blutdruck und den Pulsschlag, das schädigt auf Dauer das Herz-Kreislauf-System“, sagt der Direktor des Instituts für Medizinische Soziologie an der Universität Düsseldorf. Depressionen, Rückenschmerzen oder Diabetes können ebenso auf das Konto von Stress gehen.

Der Mensch kann Stress bewältigen, nur für Dauerlast ist er nicht gebaut. Was dauerhaft heißt, kann die Wissenschaft etwa bei der Arbeitszeit recht genau beziffern. Wer ständig über 50 Stunden pro Woche arbeitet, wird krank. Dennoch verlangen Chefs oder eben der Markt von vielen Beschäftigten, ständig an ihre Grenzen zu gehen. Über mobile Telefone und Klapprechner dringt die Arbeit ins Privatleben vor. Moderne Managementsysteme verringern Leerlaufzeiten und verdichten die Arbeit. Den Erfolg solcher Strategien bezweifelt Dragano: „Es ist ein Irrtum, dass Leute unter Hochlast produktiver sind.“

Gerade Führungskräfte könnten viel tun, um Stress zu verringern. „Nur leider fehlt häufig das nötige Wissen, beispielsweise hören die meisten Betriebswirte im Studium nie, wie Stress entsteht und wie man ihn für Beschäftigte – und sich selbst – vermeiden kann.“ Manche weisen die Verantwortung von sich. Stress am Arbeitsplatz allein mache Menschen nicht krank. Da spielten auch andere Faktoren eine Rolle. Nur: Um Erkrankungen zu verhindern, reicht es meist, einen Faktor abzuschalten. Einen haben Arbeitgeber in der Hand: den Stress im Betrieb.

Den Schuh wieder ausziehen

Wo der Schuh drückt, wissen Beschäftigte oft sehr genau. Lärm, ständige Unterbrechungen, fünf Projekte gleichzeitig oder unklare Zuständigkeiten. Viele leiden darunter. Doch nur wenige sprechen es offen aus. Sie ziehen sich den Schuh selbst an, wenn ihnen die Arbeit über den Kopf wächst. Ihnen fehlt die Zeit und der richtige Ort, um die Probleme auf den Tisch zu bringen. Wenn Betriebsräte diesen schaffen, nutzen sie ihn auch. Bei Otis beantworteten 95 Prozent der Monteure den Fragebogen zu ihren Arbeitsbelastungen.

Belastungen erkennen, ist der erste Schritt. Sie abstellen der zweite. Einen schlechten Chef kann man nicht ohne Weiteres austauschen. Lärm und Unterbrechungen lassen sich einfacher beseitigen. Etwa durch telefonfreie Zeiten in Großraumbüros oder abgetrennte Besprechungsräume. Auch bei der Planung gibt es noch Luft nach oben. Eine Übersicht, wer gerade woran arbeitet, kann helfen.

Zeitweise 100 Einigungsstellen

Manchmal hilft aber die beste Planung nicht mehr. Wenn Beschäftigte reihenweise ausfallen, hilft nur noch: mehr Leute einstellen. Für viele Betriebsräte endet die Suche nach Stressauslösern immer wieder bei dieser Erkenntnis. Für Stefan Hoock von Otis ist das ein Grund, warum sich Arbeitgeber oft sträuben, psychische Belastungen zu ermitteln. „Wir hatten zeitweise 100 Einigungsstellen zu diesem Thema im ganzen Konzern“, sagt Hoock und kann es im Nachhinein kaum noch glauben. Aus Sicht der IG Metall ließen sich Konflikte vermeiden, wenn der Arbeitsschutz klar festlegt, was Arbeitgeber bei pschyischen Belastungen tun müssen. Deshalb fordert sie eine Anti-Stress-Verordnung.

Inzwischen hat sich bei Otis viel verbessert: In den Büros kühlen Klimaanlagen sommerliche Hitze herunter, Monteure können sich auf Kosten des Arbeitgebers unterwegs Getränke kaufen und: Otis stellte neue Leute ein. Daniel Klein spürt das bei seiner Arbeit. „Alles lässt sich nicht planen, aber es ist viel besser geworden.“ Gegen etwas Spannung hat Daniel ja nichts.

www.gefaehrdungsbeurteilung.deAnti-Stress-Verordnung – eine Initiative der IG Metall

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