Krankenversicherung
Gesundheitssystem in der Krise: „Die Bürgerversicherung muss kommen!“

Die gesetzlichen Krankenkassen sind in Finanznot. Steigende Beiträge oder sinkende Leistungen sollen die Antwort sein. Doch damit würden die Probleme nur noch verschärft. Zukunftsfest finanziert wird die Krankenversicherung mit einer Solidarreform, sagt IG Metall-Sozialpolitiker Hans-Jürgen Urban.

31. Juli 202331. 7. 2023


Der Zusatzbeitrag der Krankenkassen ist zum Jahresbeginn 2023 um durchschnittlich 0,3 Prozent gestiegen. 2024 soll er erneut steigen. Warum fehlt den Krankenkassen ständig Geld?

Hans-Jürgen Urban: Die Ausgaben steigen. Verantwortlich dafür sind gerade in den letzten Jahren teure Gesetze, die etwa Ärzten und Entwicklern von Gesundheits-Apps mehr Geld bringen, ohne dass die Leistungen besser geworden wären. Aber ein Teil der Ausgabensteigerung geht auch auf den medizinischen Fortschritt zurück – den wir wollen und für eine sehr gute Versorgung auch brauchen. Wenn bessere Leistungen mehr kosten, kommt es darauf an, sie auch fair zu finanzieren. Dafür brauchen wir einen Systemwechsel!

Der Chef einer großen Krankenkasse hat kürzlich vorgeschlagen, das Finanzloch durch radikale Kürzungen zu schließen: Kassenpatienten sollen „die komplette zahnärztliche Versorgung“ selber bezahlen – oder sich privat zusatzversichern. Ein Zeichen der Verzweiflung?

Einer von vielen absurden Vorschlägen, die seit einiger Zeit durch die Debatte geistern – und zurecht viel Gegenwind bekommen. Diese Vorschläge zielen alle darauf ab, den Schutz durch die gesetzlichen Krankenkassen abzubauen. Dadurch werden Menschen aber nicht weniger krank. Die Folge ist nur, dass sie privat zahlen müssen. Wer also weniger Geld hat und sich den Zahnersatz nicht mehr leisten kann, bekommt keinen mehr? Das wäre schlicht unsozial. Gesundheit darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Das sollte ein Kassenchef eigentlich wissen.

Lässt sich die Finanzlücke der Kassen auch schließen, ohne die Beiträge zu erhöhen?

Zunächst – und auch im Koalitionsvertrag vereinbart – sollte es höhere Zahlungen aus Steuermitteln für Bürgergeldempfängerinnen und -empfänger geben. Diese Ausgaben sind zurzeit nicht ausreichend gedeckt, da geht es um mehrere Milliarden. Auf den Prüfstand gehören außerdem einige der erwähnten teuren Gesetze aus der Zeit des Ex-Gesundheitsministers Jens Spahn. Wirklich sicher und nachhaltig finanzieren lässt sich die gesetzliche Krankenversicherung aber nur, wenn wir sie zu einer Bürgerversicherung umbauen.

 

Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, zuständig für Sozialpolitik.

 

Warum bringt die Bürgerversicherung mehr Geld ins Gesundheitssystem?

Die Bürgerversicherung stellt die Finanzierung der Gesundheitsversorgung auf eine breitere Basis. Beamtinnen und Beamte, Apothekerinnen und Apotheker, Politikerinnen und Politiker, Anwältinnen und Anwälte – sie alle werden einbezogen. Dadurch fließt mehr Geld ins System. Das ist die Grundidee der Bürgerversicherung: Gerechter und solide finanziert.

Wo gibt es sonst noch Reformbedarf?

Es gibt weitere Punkte: zum Beispiel die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze und die Einbeziehung anderer Einkommensarten. Bisher werden Krankenkassenbeiträge nur auf Einkommen aus Arbeit erhoben. Wenn jemand aber viel Geld durch Kapitalerträge oder Vermietung einnimmt, wird das nicht berücksichtigt. Dieses Geld sollte künftig auch mit Beiträgen belegt werden – natürlich mit Freibeträgen, damit kleine und mittlere Einkommen nicht belastet werden.

SPD und Grüne sind offen für die Bürgerversicherung, die FDP ist strikt dagegen. Im Koalitionsvertrag steht nichts davon. Welche Chancen hat die Idee?

Die FDP mag gegen die Bürgerversicherung sein. In der Bevölkerung hat die Idee enormen Rückhalt. Das wissenschaftliche Institut der AOK hat kürzlich eine Umfrage veröffentlicht. Es ging dabei um die Zustimmung zu verschiedenen Reformideen für die gesetzliche Krankenversicherung. Dem Einbezug aller Bürgerinnen und Bürger in ein gemeinsames Gesundheitssystem – also der Kernidee der Bürgerversicherung – haben in der Umfrage drei Viertel der gesetzlich Versicherten zugestimmt. Selbst die privat Versicherten stimmten nur zu einem knappen Drittel dagegen.

Wäre es ein erster richtiger Schritt, alle gesetzlichen Kassen zusammenzulegen?

Mit dem Schlagwort „Einheitskasse“ wird oft Stimmung gegen die Bürgerversicherung gemacht. Darum geht es bei der Bürgerversicherung aber gar nicht. Entscheidend ist, dass die privat Versicherten einbezogen werden und sich am Solidarsystem beteiligen. Das kann auch stufenweise gelingen, zum Beispiel durch die Wahlmöglichkeit für Beamtinnen und Beamte, sich auch in der gesetzlichen Krankenversicherung zu versichern.

Warum ist die Spaltung in gesetzliche und private Krankenversicherung ungerecht?

Weil sie den solidarischen Grundgedanken unseres Sozialstaates untergräbt. Privatversicherte haben ein höheres Einkommen und oftmals niedrigere Gesundheitsrisiken. Sie bleiben aber unter sich. Das ist weder zeitgemäß noch gerecht. Mit der Bürgerversicherung gäbe es ein System, das einen solidarischen Ausgleich in der gesamten Gesellschaft schafft. Unser Motto: Bürgerversicherung: Gute Leistungen – fair finanziert!

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