27. Juni 2012
Mobilität in der Zukunft
Zu Wasser, zu Land, in der Luft
Handelswege und Schiffsstraßen bilden seit jeher die Lebensadern der Wirtschaft. Daran hat sich im 21. Jahrhundert nicht viel geändert. Nur die Entfernungen sind größer geworden. Doch die Mobilität stößt an ökologische Grenzen. Sie lassen sich nur mit alternativen Techniken und Ideen ...

... überwinden. Die Verkehrsindustrie muss sich auf den Weg in die Zukunft machen.

Die Zukunft beginnt mit Handarbeit: In den endlosen Tiefen des Volkswagen-Werks in Kassel, hinter einer Glastür, die nur Befugte hineinlässt und Kameras streng verbietet. Hier rollen Teile nicht im Sekundentakt vom Band. Hier werden Drahtbündel von Hand verflochten, mit Isolierband umwickelt und verknotet. Jedes Stück einmalig. Die Arbeit erinnert an vorindustrielle Zeiten, das Ergebnis soll das Auto der Zukunft antreiben. Es ist der Prototyp eines Elektroantriebs, mit dem VW im nächsten Jahr seinen E-Up und seinen E-Golf auf den Markt bringen will. Wer in Zukunft beim Geschäft mit der Mobilität dabei sein will, muss mehr können als viel PS. Nicht nur in der Autoindustrie. Im Schiffsbau, in der Luftfahrtindustrie, bei den Nutzfahrzeugbauern – überall tüfteln Spezialisten an modernen Antrieben, experimentieren mit Wind- und Sonnenkraft und testen leichte Materialien. In der Zukunft sollen Flugzeuge, Schiffe, Laster, Autos oder Züge Menschen und Waren mindestens genauso schnell und bequem wie heute von einem Ort zum anderen bringen. Nur stinken sollen sie nicht mehr und weniger Lärm machen.


Schnecke braucht Turbo

Von diesem Kunststück hängt nicht weniger als die Zukunft der modernen Gesellschaft ab. Klimawandel, schwindende Öl- und Gasvorkommen, verstopfte Straßen und Luftwege weisen die grenzenlose Mobilität immer mehr in Schranken. Auf der einen Seite ist Wirtschaft ohne Verkehr nicht denkbar. Auf der anderen Seite bedroht der Klimawandel das Überleben vieler Menschen und ist bereits jetzt kaum noch aufzuhalten. Zu lange hat sich die Staatengemeinschaft davor gedrückt, den Ausstoß von Treibhausgasen ernsthaft zu verringern. Vor fast genau 20 Jahren traf sich die Welt zum ersten Klimagipfel in Rio. Viel passiert ist seither nicht. Das Zwei-Grad-Ziel war ein bescheidenes Ziel. Wissenschaftler haben es fast aufgegeben. 2011 erreichte der weltweite Ausstoß des Klimakillers CO2 mit 31,6 Milliarden Tonnen einen neuen Rekord. Der Fortschritt ist eine Schnecke. Doch wenn sie beim Klimaschutz nicht bald den Turbo einschaltet, könnte die Erde sich unumkehrbar aufheizen. Der Verkehr ist nicht der einzige Klimafeind. Aber einer der Schlimmeren. Während in den 27 EU-Staaten zwischen 1990 und 2007 der Treibhausgasausstoß bei fast allen Verursachern, wie Haushalten und Industrie, zurückging, nahm er beim Verkehr um 25 Prozent zu. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache: Ohne sauberen Verkehr bekommt die Welt das CO2-Problem nicht in den Griff.

Ambitionierte Ziele

Die Botschaft ist angekommen. Auf dem Papier hat sich die EU einiges vorgenommen. In ihrem Weißbuch „Verkehr“ formuliert sie zehn Ziele für eine europäische Verkehrspolitik. Unter anderem sollen 2050 in europäischen Städten keine Fahrzeuge mehr mit fossilen Brennstoffen fahren. Das europäische Hochgeschwindigkeitsnetz wird ausgebaut und Flug- und Seehäfenwerden an das Schienennetz angeschlossen. Damit will die EU bis 2050 den CO2-Ausstoß des Verkehrs um 60 Prozent senken und Europa unabhängiger vom Öl machen. Jürgen Kerner findet die Ziele der EU ambitioniert. Allerdings vermisst das geschäftsführende Vorstandsmitglied der IG Metall einen wichtigen Punkt: die Beschäftigten der Verkehrsindustrie. „Aus dem Weißbuch spricht die übliche Politik in Europa. Wettbewerb und Privatisierung haben Vorrang. Zusammenhänge mit der Verkehrsindustrie tauchen nicht auf. Die Beschäftigten kommen nicht vor. Ihre Gewerkschaften nur als Störer des freien Marktes.“

Tatsächlich beschäftigt sich das Weißbuch nur an einer Stelle mit Gewerkschaften. Die EU will sie ermutigen, Konflikte zu vermeiden. „Der EU ist es scheinbar egal, wo die Technik der Zukunft gebaut wird“, kritisiert Kerner. „Uns nicht.“ In Deutschland arbeiten 846 000 Menschen in der Verkehrsindustrie. Mehr als 700 000 bei den Autoherstellern und ihren Zulieferern. Bahn- und Luftfahrtindustrie sind im Vergleich dazu klein, aber nicht weniger wichtig. Die Beschäftigung in der Bahnindustrie wuchs im vergangenen Jahr um sieben Prozent. Auch die Luftfahrt zählt zu den Wachstumsbranchen. Hinzu kommen Arbeitsplätze, die indirekt von der Verkehrsbranche abhängen, im Maschinenbau, in der Textilindustrie oder in Gießereien.


Umwelt wird Verkaufsschlager

Was die EU als große Vision verkauft, ist für Betriebsrat Thomas Gelder von der Meyer-Werft in Papenburg nicht neu. Ihm ist klar: „Wenn wir auf sinkende Energiepreise hoffen, können wir langewarten.“ Große Tanker fahren mit Schweröl, das mehr Schmutz in die Luft bläst als Diesel. Naturschützern sind auch Kreuzfahrtschiffe ein Dorn im Auge. Gelder kennt die Kritik. Die Laune vermiest sie ihm nicht. „Kreuzfahrtschiffe stoßen im Verhältnis weniger Schadstoffe aus als Containerschiffe. Und wir verbessern sie weiter.“ Die Entwickler setzen auf Gasmotoren und sogenannte „Scrubber“, die wie Katalysatoren arbeiten. Auch bei anderen Energiefressern an Bord wie Klimaanlagen suchen die Hersteller nach sparsamer Technik und umweltfreundlichen Energiequellen. Getrieben wird der Fortschritt von Energiepreisen und politischen Beschränkungen: In sogenannten Control-Areas dürfen nur Schiffe fahren, die bestimmte Emissionsgrenzen einhalten. „Wenn wir beim Umweltschutz vorankommen, sehe ich einen großen Wettbewerbsvorteil für uns“, sagt Gelder. „In China haben Reeder zwar billig eingekauft. Aber sie haben Technik von gestern bekommen. Der Umweltaspekt kann ein Verkaufsschlager werden.“

An ihrer Umweltbilanz arbeitet auch die Luftfahrtindustrie. Im Vergleich schneidet das Flugzeug schlechter ab als das Schiff. Die Branche ist sich dessen bewusst und hat sich selbst Umweltziele gesteckt: Bis 2020 sollen Flugzeuge nur noch dieHälfte des Kraftstoffs verbrauchen und halb soviel Treibhausgase ausstoßen. Technisch soll das vor allem über verbesserte Triebwerke, alternative Treibstoffe wie Bio-Kerosin und den Leichtbau gelingen. Auch in der Luftfahrt sehen Betriebsräte wie Thomas Busch von Aerotec den Umweltschutz als Chance. In der Forschung ist die Nachfrage nach Fachkräften groß. Beim Leichtbau konkurrieren Flugzeugbauer und Autohersteller um die besten Spezialisten. „Will die Luftfahrt ihre Ziele erreichen, muss sie ihre Flotten erneuern. Da wartet viel Arbeit“, sagt Busch.

Auf der Suche nach der Mobilität der Zukunft entdecken Entwickler auch alte Techniken neu. Flugzeuge könnten den Aufwind nutzen. Für Schiffe wird mit Rotoren experimentiert, in denen sich der Wind fängt. In der Autoindustrie erlebt der Elektromotor nach fast 100 Jahren ein Comeback. Eine Millionen Elektroautos auf deutschen Straßen bis 2020, lautet das Ziel. Die „Nationale Plattform Elektromobilität“, an der auch die IG Metall beteiligt ist, hatte dazu letztes Jahr Vorschläge gemacht. Von den Plänen elektrisiert, breitete sich Euphorie aus. Vier Regionen wurden für Schaufensterprojekte ausgewählt. Sie erhalten Fördergelder.


Neue Techniken – neue Qualifikationen

Von dem Rückenwind des vergangenen Jahres spürt Jürgen Stumpf heute weniger. „Die Euphorie hat sich bisher nicht in Bestellungen niedergeschlagen“, sagt der Betriebsratsvorsitzende bei VW in Kassel. Zwar bleibt das Unternehmen bei der Elektromobilität am Ball: In Kassel geht der Antrieb für den E-Up und den E-Golf nächstes Jahr in Serie. Aber bei den Stückzahlen sind die Erwartungen inzwischen gedämpfter. „Neben dem Elektromotor gewinnen Übergangstechnologien wie der Hybrid an Bedeutung.“

Für Nutzfahrzeugbauer ohnehin die wichtigste Alternative. Laster und Busse werden in auch absehbarer Zeit nicht mit reinen Elektromotoren fahren. Deshalb setzen sie auf sparsame Diesel- und Hybrid-Motoren. Dabei sieht MAN-Betriebsratsvorsitzender Jürgen Dorn Umwelt und Beschäftigte: „Unterm Strich bleibt die Zahl der Arbeitsplätze vielleicht gleich. Aber wir wollen, dass die neuen Arbeitsplätze auch bei uns entstehen.“ Neue Techniken verlangen neue Qualifikationen. Wer mit einem Hybrid arbeitet, braucht eine Starkstromzulassung, erklärt Dorn. „Deshalb müssen wir Beschäftigte rechtzeitig weiterbilden.“

Im Gegensatz zu anderen Verkehrsmitteln leidet die Bahn nicht unter einem schlechten Umweltimage. Laut Weißbuch will die EU 50 Prozent des Personen- und Güterverkehrs über 300 Kilometer bis 2050 auf Schiene und Schiff verlagern. Die Botschaft hat Johannes Hauber gehört, allein er glaubt sie nicht recht. Der Vorsitzende des Europäischen Betriebsrats bei Bombardier muss nicht nachschauen, um seine Skepsis zu begründen. Er hat die wichtigen Zahlen im Kopf. „Seit 2001 werden in Europa jährlich 500 Kilometer Schiene abgebaut und 1400 Kilometer Straße hinzugebaut.“ Das Auto ist nach wie vor die Nummer eins.

Skeptisch sieht Hauber auch die EU-Pläne, nur auf Hochgeschwindigkeitsstrecken zu setzen. „Schienenverkehr in der Fläche existiert im Weißbuch nicht. Ein Fahrplan, der Verbindungen aufeinander abstimmt, fehlt.“ Eine Politik, die Hauber von der deutschen Bahn kennt. „Große Investitionen fließen in Prestigeobjekte. Nur selten fällt etwas für regionale Projekte ab.“ Die Bahn könnte an vielen Stellen investieren, ins Schienennetz oder in leisere Güterzüge. Der regionale Ausbau des Schienenverkehrs würde viele qualifizierte Arbeitsplätze bringen. In der Bahnindustrie arbeiten nicht nur viele Ingenieure. Auch Facharbeiter werden in der arbeitsintensiven Produktion gebraucht.

Das Geschäft Mobilität

Elektromotor oder Hybrid? Nicht die einzige Frage, vor der Hersteller stehen. Viele Metropolen außerhalb Europas stehen schon heute vor dem Verkehrskollaps. Wenn sich die deutschen Hersteller auf diesen Märkten halten wollen, müssen sie mehr bieten. In Zukunft wollen Menschen Fahrzeuge nicht immer besitzen, aber nutzen. Die Frage lautet: Wer wird ihnen diese Mobilität verkaufen? Die Bahn, die Autohersteller oder Google? Erste Versuche gibt es. Mit „Car2go“ bietet Daimler seit 2008 Großstadtbewohnern Mobilität auf Abruf an. VW will nicht nur Elektroautos bauen, sondern auch grünen Stromdazu anbieten. In den nächsten fünf Jahren will Volkswagen 660 Millionen Euro in erneuerbare Energie investieren. Nicht nur die Produkte, auch die Produktion soll grüner werden.

Für Jürgen Kerner vom IG Metall-Vorstand ist das Fenster noch offen, um der Verkehrsindustrie und den Beschäftigten die Pole-Position zu sichern. „Aber wir müssen uns jetzt auf den Weg machen zu einer branchenübergreifenden Industriepolitik im Verkehrssektor. Der Wandel wird kommen. Wir entscheiden, ob wir ihn treiben oder er uns.“


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