15. April 2014
Mobilität
Ausmachen, abschalten
365 Mails checken, 20 Kurznachrichten beantworten und 12 Anrufer zurückrufen: Beschäftigte mailen, simsen und chatten auch abends und am Wochenende.

Das Schlimme, sagt Kasimir Lalla, das Schlimme ist, dass es unmerklich beginnt, er hat es bei Kollegen gesehen. Ein süßes Gift, ein schleichendes Gift, eines, das am Anfang völlig harmlos wirkt – abends schnell eine E-Mail, morgens rasch ein Rückruf –, das sich einnistet und ausbreitet, das Flexibilität verspricht und Freiheit. Aber dann, bei dem einen früher, bei dem anderen später, schlägt es um: Auf einmal ist aus der neuen Freiheit ein Zwang geworden, aus dem selbstbestimmten Arbeiten permanente Erreichbarkeit. Einschließlich der Abende, einschließlich der Wochenenden. Und dann?

„Dann geht es nicht mehr weiter, körperlich nicht, seelisch nicht“, sagt Kasimir Lalla, „ich kenne Kollegen aus anderen Abteilungen, bei denen war das so.“ Seit mehr als 25 Jahren arbeitet der 51-Jährige bei BMW. Zu Beginn hat er die Einführung der Gleitzeit im Unternehmen mitgemacht. Jetzt, seit ein paar Jahren, erlebt er die explosionsartige Ausbreitung mobiler Arbeit: Plötzlich wurde auch nach Dienstschluss telefoniert. Plötzlich bekam man abends vom Vorgesetzten eine E-Mail geschickt. Plötzlich verschickte man selbst von daheim aus noch eine E-Mail. Erst war es eine Ausnahme. Mittlerweile ist es Normalzustand. Und das nicht nur bei BMW. Sondern nahezu in allen Betrieben.


 

Permanente Erreichbarkeit bleibt nicht folgenlos

79 Prozent aller Berufstätigen besitzen mobile Geräte, mit denen sie arbeiten können, Laptops, Handys, Smartphones. Das ergab eine repräsentative Studie des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien. Von den Beschäftigten, die mobile Geräte nutzen, arbeitet mehr als die Hälfte (55 Prozent) unterwegs. Und 77 Prozent sind auch nach Dienstschluss erreichbar. Diese permanente Erreichbarkeit bleibt nicht folgenlos.

Längst sind sich Arbeitsmediziner einig, dass ständige Erreichbarkeit negative Auswirkungen hat. Auf das eigene Wohlempfinden und damit letztlich auch auf die eigene Leistungsfähigkeit. Wer immer online, wer rund um die Uhr auf dem Handy erreichbar ist, wer abends noch schnell seine E-Mails beantwortet, und sei es eine einzige, der kann eben niemals abschalten.

Die Zeiten, in denen man sich von der Arbeit erholt, werden kürzer und kürzer, mehr und mehr dringt dafür die Arbeit ins Privatleben ein. Es braucht aber nicht einmal das tatsächliche Arbeiten am Abend – allein das Bewusstsein, nach Dienstschluss angerufen oder angemailt werden zu können, versetzt in einen Zustand dauerhafter Grundspannung. Das ist nicht gesund. Das fördert Stress.


 

Psychische Leiden nehmen zu

Ob, wann und in welcher Form dieser Stress zu Beschwerden führt, ist individuell und hängt von vielen Faktoren ab. Fest steht allerdings, dass die Verwischung von Arbeit und Freizeit psychische Belastungen auslöst. Bei dem einen führt das zu Schlafstörungen, bei anderen zu Rückenproblemen, zu einem Rauschen im Ohr, zu Magenschmerzen. Am Ende stehen Depression und Burn-out. Solche Erkrankungen nehmen zu, wie Statistiken der Krankenkassen zeigen – und zwar rapide. Seit 1994 sind die Fehlzeiten aufgrund psychischer Leiden um 80 Prozent gestiegen. Höchste Zeit also, etwas zu tun.

Und in der Tat: Es wurde ja etwas getan in den vergangenen Jahren. Es gibt Unternehmen, die gegen den grassierenden E-Mail-Wahn kämpfen: Bei VW fahren seit dem Jahr 2011 die Server für Diensthandys eine halbe Stunde nach Ende der Gleitzeit runter; erst eine halbe Stunde vor dem frühesten Dienstbeginn werden E-Mails wieder weitergeleitet. Beschäftigte von Daimler können elektronische Posteingänge während ihrer Abwesenheit automatisch löschen lassen.

Für Ingrid Lepple bedeutet das: Nach einer freien Woche muss sie sich nicht mehr durch mehr als 200 neue Nachrichten lesen. „Jetzt ist das Postfach leer, wenn ich zurückkomme.“ Die stellvertretende Betriebsratsvorsitzende bei Daimler in Stuttgart findet das klasse. „Die Absender werden informiert, dass die E-Mail gelöscht wird. Wenn es wichtig ist, müssen sie sich noch einmal melden.“ Viele sind es nicht, die wieder schreiben. Die meisten Dinge, so Lepples Erfahrung, haben sich bereits erledigt.

 

 

Wunsch nach Vereinbarkeit

Die E-Mail-Flut, das Arbeiten bis in den Abend oder das Wochenende hinein – das ist schon lange ein Thema bei Daimler. Von den 140 000 Beschäftigten gehören rund 58 000 zu den Angestellten. Fast 26 000 von ihnen haben einen Zugriff auf das System von außen. Das heißt: Sie können immer und überall arbeiten. Manche Beschäftigte möchten das auch. Teamleiterinnen, die Teilzeit arbeiten und Kinder haben, würden gerne abends auf das System zugreifen. Ingrid Lepple versteht den Wunsch nach Vereinbarkeit – das dürfe aber nicht bedeuten, dass Eltern rund um die Uhr arbeiten. „Gesetzliche Arbeitszeiten sind keine Willkür, dahinter steckt das Wissen, dass länger arbeiten krank macht.“

Auch bei BMW weiß man um die Gefahren entgrenzter Arbeit. Seit Jahresbeginn gilt hier eine Betriebsvereinbarung für rund 35 000 Mitarbeiter an den deutschen Standorten. Der Betriebsrat setzte dabei ganz auf die Selbstbestimmung der Beschäftigten. Diese können nun mobiles Arbeiten, also etwa das abendliche E-Mail-Beantworten, in ihre Arbeitszeitkonten eintragen – und dafür einen anderen Tag freinehmen oder früher nach Hause gehen. „Mobilarbeit ist Arbeitszeit“, sagt Betriebsrat Peter Cammerer, der die Vereinbarung mit aushandelte.
 

 

Schutz vor psychischen Belastungen

Dazu sollen die Beschäftigten mit ihrem Vorgesetzten vereinbaren, wann sie außerhalb ihres Arbeitsplatzes kontaktiert werden können. Und wann nicht. Kasimir Lalla, der für die Qualitätskontrolle der im Fahrzeug integrierten Betriebsanleitung zuständig ist, verlässt freitags gegen 14 Uhr seinen Arbeitsplatz, erledigt den Wochenendeinkauf, bringt seine 12 und 17 Jahre alten Söhne zum Sportverein – und fährt dann abends um 20 Uhr nochmal seinen Rechner hoch. Um diese Zeit hat die Redaktion ihm die fertigen Daten geschickt, nun kann Lalla in Ruhe von zu Hause arbeiten. Und diese Stunden eintragen.

„Die Regelung hat mir meine Arbeit sehr erleichtert.“ Kasimir Lalla genießt seine Freiheiten, aber er ist auch froh, dass die Arbeit Grenzen hat. Das ist gut, allein: Längst nicht alle Beschäftigten aller Branchen kommen in den Genuss solcher Regelungen. Genau genommen, nur die wenigsten.

Detlef Wetzel, Erster Vorsitzender der IG Metall, fordert deshalb gesetzliche Regelungen für SMS- und E-Mail-Verkehr nach Feierabend und am Wochenende. „Die Digitalisierung darf nicht dazu führen, dass Arbeitnehmer rund um die Uhr erreichbar sind.“ Zudem setzt sich die IG Metall für eine Verordnung zum Schutz vor psychischen Belastungen am Arbeitsplatz ein. Sie fordert eine Anti-Stress-Verordnung, die für alle Branchen gilt und die Verbindlichkeit für präventiven Arbeitsschutz für die Beschäftigten erhöht.

Stressbelastungen sollen mit Gefährdungen etwa durch Lärm gleichgestellt und Vorgaben für die Gestaltung von Arbeitszeiten aufgenommen werden.
 

 

Flexibilität wird akzeptiert

Dabei ist es keineswegs so, dass sich die Beschäftigten prinzipiell gegen flexibles Arbeiten stellen. Nur muss es eben auch Grenzen geben. Die Beschäftigtenbefragung der IG Metall, an der im vergangenen Jahr weit über 500 000 Menschen teilnahmen, zeigt: Die meisten akzeptieren betriebliche Forderungen nach Flexibilität, nur 10 Prozent der Befragten sprach sich gänzlich gegen flexibles Arbeiten aus. Im Umkehrschluss erwarten die Beschäftigten ebenso von ihrem Arbeitgeber Flexibilität: 93 Prozent wünschen sich, dass sie auch kurzfristig einen Tag freinehmen können.

Die Ergebnisse der Befragung sind Grundlage einer Diskussion, die derzeit innerhalb der IG Metall zur Vorbereitung für die Metall-Tarifrunde 2015 geführt wird. Welche konkreten Forderungen aufgestellt werden, ist noch offen – eindeutig allerdings ist der Wunsch der Beschäftigten nach geregelter Arbeitszeit und vehement die Forderung, dass Arbeit und Leben miteinander vereinbar sein sollen.

Klar ist auch: Der Entgrenzung von Arbeit, die mit permanenter Erreichbarkeit erst möglich wird, muss Einhalt geboten werden. Sonst wird der Stress, dem Beschäftigte ununterbrochen ausgesetzt sind, weiter wachsen. Und mit ihm die psychischen Beschwerden. Oder, um es mit einem schönen, wunderbar griffigen Satz von Kasimir Lalla zu sagen: „Wenn Du immer erreichbar bist, dann bist Du irgendwann kaputt.“

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