7. September 2016
Kampagne „Mein Leben – meine Zeit“: Gespräch mit Jörg Hofmann
Bei der Arbeitszeit alle mitnehmen
Wir werden Fragen der Arbeitszeit nicht alle sofort beantworten. Dafür hat das Thema zu viele Facetten. Aber gute Arbeit gibt es nicht, wenn Arbeitszeitregeln nicht dazu beitragen, dass Arbeit sicherer, gerechter und selbstbestimmter wird, sagt Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall.

Eine Milliarde unbezahlte Überstunden im vergangenen Jahr – warum verschenken Beschäftigte ihre Arbeitszeit?

Jörg Hofmann: Arbeitszeit ist kein wertloses Gut. Sie hat einen Wert, nicht nur für die Arbeitgeber. Wir wollen über sie bestimmen. Das sind die Ansprüche unserer Arbeitszeitkampagne „Mein Leben – meine Zeit“. Erfassung und Vergütung sind die Grundlage für alle Ziele, die wir in der Kampagne vereinbart haben: Mehr Souveränität, mehr Planbarkeit, mehr Selbstbestimmung. Warum das bisher nicht klappt? Weil wir es nicht ausreichend zum Thema gemacht haben und die Arbeitswelt mit all ihren alten und neuen Ansprüchen zu lange haben machen lassen. Das Ergebnis? Zeitverfall, extreme Belastungen, hohe Flexibilitätsanforderungen und extreme Leistungsverdichtung. Wir waren zu lange Zuschauer, jetzt mischen wir uns ein: Im Betrieb, in der Tarifpolitik, aber auch mit Forderungen an den Gesetzgeber.

Tarifverträge, Gesetze und Betriebsvereinbarungen – ist Arbeitszeit nicht genug geregelt?

Ja, aber oft sind das Regelungen, die vor Jahrzehnten entstanden sind. Zwischenzeitlich hat sich vieles verändert: Nicht mehr überall gehört „Vati am Samstag mir“. Kurzfristige Flexibilität ist angesagt, statt starrer Schichtsysteme. Viele Regelungen passen nicht mehr in die Zeit. Sie geben nicht den Schutz und den Gestaltungsrahmen, den die Beschäftigte in der Arbeitswelt von heute brauchen.

Woran liegt das?

Da müssen wir auch selbstkritisch auf unser eigenes Handeln schauen. Wenn es um Flexibilität ging, waren wir zu oft defensiv. Wir wollten Schlimmeres verhindern. Das ist wichtig, reicht aber nicht aus. Die Aufgabe ist, wie können wir statt fremdbestimmter Flexibilität mehr selbstbestimmte und mitbestimmte Arbeitszeitrealitäten gestalten. Deshalb muss das Ziel jetzt sein, aus der Defensive herauszukommen.

Wie sieht eine solche Regelung aus?

Selbstbestimmte Arbeitszeit bedeutet nicht für jeden das Gleiche. Der eine möchte seine Arbeitszeit im Verlauf des Tages flexibel handhaben. Der nächste will eine Zeit lang viel arbeiten und dafür längere Auszeiten nehmen. Ein Dritter will auf Dauer verlässliche Arbeitszeiten.

Wie soll eine Betriebsvereinbarung das alles unter einen Hut kriegen?

Nicht indem der Betriebsrat sagt: Ich weiß, was für alle gut ist. Wir müssen die Beschäftigten an der Erarbeitung gemeinsamer Regeln beteiligen. Wir brauchen auch in Zukunft kollektiv durchgesetzte Regeln. Schutz und Gestaltung – beides ist wichtig. Ein Lösungsweg sind mehr Wahlmöglichkeiten, die kollektiv vereinbart sind. Aber: Ein Miteinander unterschiedlicher Arbeitszeitinteressen verlangt, dass das ganze Team sie mitträgt und stützt. Deshalb wird es nur funktionieren, wenn alle, auch die Vorgesetzten, vom Anfang an und bis zur fertigen Vereinbarung beteiligt werden. Es geht immer auch um einen Kulturwandel im Unternehmen und den können wir nicht per Betriebsvereinbarung oder Tarifvertrag verordnen. Er verlangt Beteiligung, Beteiligung und nochmals Beteiligung.

Hat Flexibilität nicht Grenzen, zum Beispiel im Schichtbetrieb?

Nein, das sehe ich nicht. Hier gibt es längst Flexibilität, wenn es darum geht, die Schichten auf acht oder neun Stunden raufzufahren oder aufs Wochenende auszudehnen. Warum soll das in die andere Richtung nicht auch gehen? Warum sollen Kollegen nicht die Möglichkeit haben, in der Spätschicht einmal in der Woche nicht bis 22 Uhr zu arbeiten, weil sie sonst beim Spiel am Sonntag nicht aufgestellt werden? Ja, Schichtarbeit ist restriktiver. Aber auch hier gibt es erfolgreiche Beispiele selbstbestimmterer Arbeitszeiten.

Was halten die Arbeitgeber von selbstbestimmten Arbeitszeiten?

Arbeitszeit ist für sie immer noch ein Feld mit maximaler Entscheidungshoheit. Für sie heißt es: „Dein Leben – meine Zeit“. Sie wollen bestimmen, was sie wem gewähren. Sie wollen maximale Flexibilität für ihre Interessen, stehen aber zunehmend vor dem Problem, dass sie Menschen dafür nur kriegen, wenn sie ihnen mehr Gestaltungsspielräume bieten. Dabei kommen dann Scheinlösungen wie Vertrauensarbeitszeit heraus.

Wie will die IG Metall diese Entscheidungshoheit durchbrechen?

Mit unserer arbeitszeitpolitischen Kampagne konzentrieren wir uns auf die Themen Bildungsteilzeit, Schichtarbeit, mobile Arbeit und Arbeitszeitverfall. Es geht um Wahlmöglichkeiten bei Arbeitszeit, die es ermöglichen Kinder, Pflege, Weiterbildung besser mit der Arbeit zu vereinbaren. Wenn es gelingt, in vielen Betrieben wenigstens eines dieser Themen umzusetzen, sind das beste Voraussetzungen, um tarifpolitisch etwas zu erreichen.

Was ist das Ziel der Kampagne?

Wir werden alle Fragen der Arbeitszeit nicht von heute auf morgen beantworten. Dafür hat das Thema zu viele Facetten. Aber gute Arbeit gibt es nicht, wenn Arbeitszeitregeln nicht dazu beitragen, dass Arbeit sicherer, gerechter und selbstbestimmter wird. Handeln statt lamentieren, ist angesagt. Wir können das. Die Gestaltung der Arbeitszeit ist so alt wie die Gewerkschaft und sie wird uns auch in Zukunft weiter begleiten.


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