1. März 2020
Martina Helmerich
Mitbestimmung
Mit 18 im Arbeitskampf
Jessica Reichert hat als Auszubildende für den Erhalt der Arbeitsplätze bei Siemens in Bad Neustadt gekämpft und später den Transformationsprozess bei Valeo Siemens begleitet. Beides hat die 28-Jährige geprägt. Die Betriebsrätin und Vertrauensfrau weiß, dass es sich lohnt, zu kämpfen.

Angefangen hat alles mit einer Schreckensnachricht im Jahr 2010. Damals steckte Jessica mitten in ihrer Ausbildung bei Siemens in Bad Neustadt in der Bayerischen Rhön. Plötzlich kündigte Siemens an, fast die Hälfte der Arbeitsplätze in Bad Neustadt abbauen und ins Ausland verlagern zu wollen. Der Arbeitgeber wollte 840 Stellen am Standort streichen. Jessica war damals in der Jugend- und Auszubildendenvertretung (JAV). „Ich bin da mehr aus Zufall reingerutscht, wenn ich ehrlich bin, und hatte erst mal keinen Plan, was da abgeht“, sagt sie rückblickend. „Erst durch die Krise wurde mir klar, wie wichtig Mitbestimmungsstrukturen sind.“

Betriebsrat, Vertrauensleute und JAV reagierten prompt. Sofort nachdem die Geschäftsleitung den Stellenabbau verkündet hatte, gingen die Vertrauensleute durch die einzelnen Bereiche des Standorts, um die Belegschaft zu einer Protestkundgebung aufzufordern. Der Erfolg war überwältigend: Geschlossen legten die 2 000 Beschäftigten die Arbeit nieder und zogen demonstrativ vors Werkstor. Jessica Reichert erinnert sich: „Ohne die schnelle Truppe der Vertrauensleute im Betrieb hätte das nicht diese Wirkung gehabt.“

Es folgte eine Welle von Aktionen und Kundgebungen. Die Angst vor dem Kahlschlag mobilisierte die ganze Region. 8 000 Frauen und Männer mit Transparenten füllten den Marktplatz in Bad Neustadt. „Unvergesslich, wie viele Menschen da waren. Der Platz war noch nie so voll. Ich krieg heute noch Gänsehaut, wenn ich daran denke. Allen war klar, dass die ganze Region die Folgen schmerzhaft spüren würde“, erzählt Jessica.

Der Slogan „Die Rhön steht auf“ beflügelte die Menschen. Politiker und Vertreter der Kirchen solidarisierten sich mit der Belegschaft. Auch Jessica war damals bei den Aktionen dabei. Sie fuhr in einem der vielen Busse mit, um in der Münchner Siemens-Zentrale 75 000 Unterschriften zu übergeben.

Die Wucht, mit der die Menschen in der Rhön um ihre Arbeitsplätze kämpften, zeigte Wirkung. Siemens legte die Abbaupläne ad acta. Bad Neustadt wurde Modellstadt für Elektromobilität. Die Produktion von Elektromotoren für Kfz-Antriebe wurde 2016 in ein Joint Venture mit dem französischen Valeo-Konzern überführt. Bei Valeo Siemens arbeiten heute viele junge Leute. Der Altersdurchschnitt ist 35 Jahre. Selbst die Meister sind kaum älter. Abnehmer der elektrischen Antriebssysteme sind Volvo und Daimler. Das Unternehmen ist in kurzer Zeit rasant gewachsen. Es gibt viele neue Kolleginnen und Kollegen, die sich in das bisher kleine und familiäre Team integrieren müssen. Zudem muss sich der Standort dem internationalen Wettbewerb stellen. Die Transformation und Ausrichtung auf neue Geschäftsfelder, die viele Betriebe noch vor sich haben, ist hier in Bad Neustadt schon seit mehreren Jahren im Gang.

Es gibt nicht viele Arbeitnehmervertreter, die schon in jungen Jahren eine solche Laufbahn vorweisen wie Jessica Reichert. Schon vor einem Jahr hat ihr Arbeitgeber sie für ihre Arbeit im Betriebsrat freigestellt. Das heißt, sie arbeitet nicht in ihrem gelernten Beruf als technische Zeichnerin, sondern für ihre Kolleginnen und Kollegen. Die 28-Jährige kümmert sich um die großen Themen der Belegschaft: Schichtplangestaltung, Arbeitszeiten und Entgeltthemen.

Bei den Betriebsratswahlen 2017 bekam Jessica das zweitbeste Ergebnis. Seitdem ist sie stellvertretende Betriebsratsvorsitzende und auch Vertrauensfrau. Für sie als Arbeitnehmerin bleibt es spannend. Jessica kämpft mit ihren Kollegen um eine faire Bezahlung in der Fertigung. Denn der Arbeitgeber möchte dort eine niedrigere Eingruppierung durchsetzen. „Wenn sich Jessica für eine Sache einsetzt, dann richtig“, sagt ihre Betriebsratskollegin Nadine Knauff. „Sie hat ein ausgeprägtes Gefühl für Gerechtigkeit.“

Nicht nur im Betriebsrat und Vertrauenskörper sieht sich Jessica als Teamplayerin. In ihrer Freizeit ist sie in einem Faschingsverein aktiv. Seit ihrem dritten Lebensjahr tanzt sie dort und genießt die vielen Auftritte in der närrischen Zeit. Nicht nur als Tänzerin beherrscht sie die hohe Kunst des Spagats. Auch im Berufsleben stellt sie dieses Talent unter Beweis.

 


Darum ging es in dem Konflikt


Kontakt zur IG Metall

Link zum Artikel