25. Oktober 2016
Sozialstaatskongress 2016
Wir brauchen neue Regulierungsmechanismen
Demografischer Wandel und Digitalisierung stellen das deutsche Sozialmodell vor neue Herausforderungen. Welche das sind und welchen Beitrag Gewerkschaften zum Sozialstaat der Zukunft leisten können, darüber sprachen wir mit Prof. Dr. Anke Hassel.

 


 
Zur Person:
Frau Prof. Dr. Anke Hassel ist seit dem 1. September 2016 akademische Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung und gilt als Internationale Expertin für politische Ökonomie, Institutionen des Arbeitsmarktes, Arbeitsmigration, Sozialpolitik sowie Arbeitnehmerpartizipation.
 
Im Rahmen des Sozialstaatskongress am 27./28. Oktober der IG Metall in Berlin tritt sie als Referentin auf und hat uns vorab einige Fragen zu den Herausforderungen des Sozialstaats beantwortet.

 


 

Frau Hassel, was zeichnet das deutsche Sozialmodell aus?

Anke Hassel: Im breiteren Sinne zeichnet sich das deutsche Sozialmodell dadurch aus, dass viele Bereiche in der Sozialpolitik, aber auch auf dem Arbeitsmarkt durch die Sozialpartner – also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände reguliert werden.

 

Wie sieht diese Regulierung aus?

Einerseits erfolgt sie über die Tarifpolitik, wenn Gewerkschaften und Arbeitnehmer Tarifverträge schließen. Andererseits über sozialpolitische Regulierungen wie etwa in den Sozialversicherungen, wo nach dem Selbstverwaltungsprinzip Gewerkschaften die Interessen der Arbeitnehmer und Arbeitgeber ihre Interessen vertreten. Verbände von beiden Seiten haben einen sehr großen Anteil an der Gestaltung des deutschen Sozialmodells.

 

Ist Deutschland da ein Sonderfall?

Die Rolle der Verbände und die starken Sozialversicherungen sind ein Charakteristikum für Deutschland sowie andere kontinental europäische Länder. Das ist nicht überall in dieser Form verbreitet. In einigen Ländern gibt es entweder schwache Regulierung oder eine durch den Markt gesteuerte. In anderen greift der Staat viel stärker ein und überlässt die Ausgestaltung des Sozialstaats nicht den Verbänden.

 

Ist das deutsche Modell überhaupt noch zeitgemäß?

Was bedeutet zeitgemäß? Der Sozialstaat spielt zunächst einmal noch immer eine sehr große Rolle. Der Anteil der Sozialausgaben am Bruttoinlandsprodukt beträgt hierzulande ungefähr 26 Prozent. Damit liegt Deutschland an neunter Stelle der OECD-Staaten. Und auch in Zukunft braucht es starke soziale Sicherungssysteme, da die Risiken am Arbeitsmarkt tendenziell größer geworden sind. Aufgabe des Sozialstaats ist es, dort einzugreifen, wo es gilt, Risiken abzumildern und die auf dem Markt ungleiche Verteilung von Einkommen auszugleichen.

 

Auf ihrem Kongress in Berlin diskutiert die IG Metall über den Sozialstaat 4.0. Was verbinden Sie damit?

Ich interpretiere den Begriff so, dass der Sozialstaat mit dem von Digitalisierung und Industrie 4.0 ausgelösten Wandel in der Arbeitswelt Schritt halten muss – also zum Beispiel der Entgrenzung von Arbeit Einhalt gebieten muss. Neue Technologien und Plattformen, mobiles Arbeiten und Erreichbarkeit rund um die Uhr haben die Art und Weise wie Arbeit abgefragt und angeboten wird verändert. Das macht traditionelle Formen der Regulierung von Arbeitsverhältnissen, Leistungsanforderungen, Arbeitsvolumen und -zeit zunehmend schwieriger. Sozialstaat 4.0 bedeutet in diesem Zusammenhang: Wir brauchen neue Regulierungsmechanismen. Dafür ist es wichtig, dass die Tarifpolitik auf diese neuen Herausforderungen reagiert.

 

Und wie könnten die aussehen?

Aus Sicht der Gewerkschaften ist es sicher wichtig, dass sie tarifpolitisch auf diese neuen Herausforderungen eingehen, etwa was das Thema Arbeitszeit angeht. Aber Tarifpolitik ist natürlich nur ein Instrument zur Weiterentwicklung des deutschen Sozialmodells. Wenn man es in seiner Gesamtheit betrachtet, gibt es viele andere Herausforderungen, die nicht von der Digitalisierung her rühren und die nicht allein tarifpolitisch zu regulieren sind.

 

Welche Herausforderungen sind das?

Der Sozialstaat soll gegen soziale Risiken absichern. Die drei klassischen Risiken waren und sind immer noch: Alter, Krankheit und Verlust des Arbeitsplatzes. Sie haben sich im Lauf der Zeit unter anderem durch den demografischen Wandel aber verändert. Die Menschen leben heute gesünder und länger, werden sie im Alter krank und pflegebedürftig, verursacht das aber insgesamt hohe Kosten. Hier muss der Sozialstaat neu justiert werden. Hinzu kommen neue soziale Risiken, die etwas mit neuen Familienstrukturen zu tun haben. Familien leben heute ganz anders als früher. Es gibt viel mehr Alleinerziehende, deutlich mehr Scheidungen und eine hohe Kinderarmut. Die Kinderarmut hat natürlich auch etwas mit Scheidung und Alleinerziehenden zu tun. Es gibt also neue soziale Risikogruppen, die es früher so nicht gab. Darauf muss sich der Sozialstaat neu einstellen und Ausgleich-mechanismen schaffen, um das Armutsrisiko in diesen Gruppen zu senken.

 

Stehen wir vor einer Krise deutschen Sozialmodells?

Nein. Was wir jedoch brauchen ist ein aktive und vorausschauende Diskussion darüber wie sich die Gesellschaft verändert und wie sich die Wertschöpfung in der Wirtschaft verändert. Die zentrale Frage ist doch: Welche Antworten müssen wir in der Sozialpolitik finden, um mit diesen (neuen) Herausforderungen umzugehen?

Wir befinden uns also in keinem Krisendiskurs, sondern in einer Diskussion über langfristige Anpassungen von großen sozialen Systemen. Immerhin bewegen wir enorme finanzielle Ressourcen von A nach B in Form von Sozialausgaben über Krankenversicherung, Rentenversicherung und Arbeitslosenversicherung wie auch anderen Sozialleistungen. Diese Ausgaben müssen immer wieder neu justiert werden, je nachdem wie sich die Gesellschaft verändert.

 

Welche Rolle spielen Gewerkschaften bei der Gestaltung des Sozialstaats der Zukunft?

Wenn wir über die Zukunftsfähigkeit von sozialen Sicherungssystemen sprechen, kommt ihnen eine wesentliche Rolle zu. Sie müssen vorausschauend gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen antizipieren sowie analysieren. Sie müssen für sich selbst immer wieder entscheiden: Welche gesellschaftlichen Gruppen wollen wir in welchem Maß gegen soziale Risiken absichern? Und wie können wir das erreichen? Und auf der anderen Seite: Wie sehr können einzelne Individuen oder Familien selbst vorsorgen? Stichwort betriebliche Altersvorsorge. Das sind Debatten, die Gewerkschaften führen müssen und in denen sie ihre Vorstellungen in den politischen Prozess einbringen müssen.


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