4. November 2016
Neue Osnabrücker Zeitung: Interview mit Jörg Hofmann
„Arbeitgeber spalten die Gesellschaft“
Warum,erklärt Jörg Hofmann, Erster Vorsitzender der IG Metall, am Beispiel Rente mit der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. So versuchen die Arbeitgeber die Menschen hinters Licht zu führen, indem sie vor höheren Belastungen durch steigende Rentenbeiträge warnen und liebe mehr private Vorsorge fordern

... private Vorsorge fordern. Die Kosten dafür müssen jedoch die Arbeitnehmer allein tragen. Außerdem gibt der Gewerkschafter Antworten auf wichtige Zukunftsfragen.

Herr Hofmann, im Jahr 1891, als vor 125 Jahren der IG-Metall-Vorgänger Deutscher Metallarbeiter-Verband gegründet wurde, betrugen die Arbeitszeiten elf Stunden und mehr am Tag. Das hat sich bekanntlich radikal geändert. Mission erfüllt?
Jörg Hofmann:
Arbeitszeit ist und bleibt ein wichtiges Scharnier in der Arbeitswelt. Es geht schon lange nicht mehr um die weitere kollektive wöchentliche Arbeitszeitverkürzung. Stattdessen wollen wir den unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen gerecht werden: Eltern haben andere Arbeitszeitansprüche als junge Leute, die gerade ausgelernt haben oder von der Hochschule kommen, oder Menschen, die Angehörige pflegen. Ältere wollen flexible Übergänge in die Rente. Mehr Selbstbestimmung und Flexibilität für die Beschäftigten sind unser Ziel.

In vielen Branchen sinkt jedoch die Tarifbindung. Wie sieht es in der Metall- und Elektroindustrie aus?
Wir hatten bis Anfang des Jahrtausends eine deutlich nachlassende Tarifbindung, insbesondere in den neuen Bundesländern. Seit 2004/2005 hat sich die Tarifbindung stabilisiert. Aktuell verzeichnen wir einen Zuwachs. Erfreulich ist auch die Mitgliederentwicklung. Anfang 2016 hatten wir 2,27 Millionen Mitglieder.

Eine große Herausforderung sind auch Automatisierung und Digitalisierung. Macht der Roboter die Beschäftigten und damit die Gewerkschaften weitgehend überflüssig?
Die IG Metall hat die erste, zweite und dritte industrielle Revolution bewältigt. Im Kern ist es uns gelungen, sichere Arbeit und ein auskömmliches Einkommen für die Beschäftigten durchzusetzen. Wie die Bilanz nach der vierten industriellen Revolution aussehen wird, kann heute niemand verlässlich sagen. Auf der einen Seite gibt es Rationalisierung und Automatisierung, auf der anderen Seite entstehen aber auch neue Geschäftsmodelle und neue Produkte, was neue Jobs bedeutet.

Sie fordern einen Sozialstaat 4.0. Welche neuen Regeln brauchen wir angesichts der digitalen Ökonomie?
Wenn man sieht, wie groß die technologischen Sprünge sind und wie schnell sich Tätigkeitsprofile verändern, dann muss unser Bildungs- und Ausbildungssystem dringend neu aufgestellt werden. Immer mehr Beschäftigte werden sich während ihrer Erwerbstätigkeit mindestens einmal neu orientieren müssen. Wir fordern deshalb, dass Bildung und Weiterbildung für jeden Beschäftigten rechtlich abgesichert werden. Davon sind wir – trotz vieler Reden über lebenslanges Lernen – leider noch weit entfernt.

Sie fordern also einen individuellen Anspruch auf Weiterbildung während des gesamten Erwerbslebens. Ist das ein Appell an die Tarifpartner oder an den Gesetzgeber?
Der Gesetzgeber muss den Rahmen setzen, zum Beispiel, indem er Schulen und Berufsschulen für eine zweite Ausbildung oder Weiterbildung öffnet und fit macht und indem er für die materielle Absicherung der Menschen sorgt. Die Tarifpartner stehen in der Pflicht, Freistellungen oder Teilzeitlösungen zu ermöglichen. Darauf muss jeder Einzelne einen tarifvertraglichen Anspruch haben.

Die Rentendebatte wird immer kontroverser. Vor allem das Rentenniveau steht im Fokus. Wo wollen Sie die Haltelinien gezogen sehen?
Bei der für das Jahr 2030 geltenden Untergrenze von 43 Prozent, oder beim aktuellen Niveau von 47,8 Prozent? Unser erstes Ziel ist, das heutige Niveau zu stabilisieren. Bis zum Jahr 2030 ist das auch kein großes Problem. Zugleich sollte die aktuell gute Kassenlage der Deutschen Rentenversicherung genutzt werden, eine Demografie-Reserve aufzubauen, die dann künftige Mehrbelastungen ausgleichen kann. Außerdem muss die Rentenversicherung von versicherungsfremden Leistungen wie der Mütterrente entlastet werden. Geschieht all das, kann das heutige Rentenniveau zumindest bis 2030 erhalten bleiben.

Der Arbeitgeberverband Gesamtmetall wirft der IG Metall einen „politischen Totalausfall“ vor und warnt vor „Rentengeschenken“ ...
Ich finde es ungeheuerlich, wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die ja im Wesentlichen von Gesamtmetall getragen wird, die Gesellschaft zu spalten versucht. In der Sache versuchen die Arbeitgeber, die Menschen hinters Licht zu führen, indem sie immer wieder vor höheren Belastungen durch steigende Rentenbeiträge warnen. Sie fordern stattdessen mehr private Vorsorge. Diese Belastungen müssen die Arbeitnehmer aber alleine tragen. Das ist ein leicht durchschaubares Kostensenkungsmanöver der Arbeitgeber. Basis der Altersvorsorge muss aber die paritätisch bezahlte gesetzliche Rentenversicherung bleiben. Alle Menschen brauchen auskömmliche Renten – und nicht nur die, die zusätzlich vorsorgen können.

Blicken wir voraus auf die Bundestagswahl. Worin sehen Sie die Ursachen für den Aufstieg von Rechtspopulisten wie der AfD?
Populisten haben deshalb so viel Zulauf, weil sie die Menschen glauben machen, man könne sich von Umbrüchen wie der Globalisierung oder der Digitalisierung abkoppeln. Es ist deshalb speziell mit Blick auf die Bundestagswahl eine Riesenaufgabe, klarzumachen: Es gibt auch in einer sich rasant verändernden Welt Verlässlichkeit. Es ist notwendig, den Menschen Sicherheit zu geben angesichts der massiven Umstrukturierungen, die vor uns stehen. Nicht nur die Politik muss ihnen Abstiegsängste nehmen, soziale Absicherungen verbessern und klarmachen, dass Veränderungsprozesse politisch begleitet werden. Das ist auch eine große Herausforderung für uns als Gewerkschaften.

Das Interview erschien am 4. November 2016 in der „Neue Osnabrücker Zeitung“.


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